Italien sucht den „Patient Null“

von Redaktion

In der Lombardei wurden zehn Gemeinden von der Außenwelt isoliert. Venedig sagt den Karneval ab, Mailand ist eine Geisterstadt. Das Coronavirus hat Italien fest im Griff. In dem Land ist der Ausnahmezustand mancherorts Alltag geworden.

VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Rom – Montagmorgen in Casalpusterlengo, normalerweise sind die Straßen in der südlichen Lombardei zu dieser Zeit stark befahren. Die Region ist Italiens Wirtschaftsmotor, 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden hier erwirtschaftet. Seit Sonntag hingegen herrscht Stille.

An der Ortseinfahrt stehen Polizisten und halten jedes Fahrzeug mit der Kelle an. Auf der Verkehrsinsel haben sich Kamerateams aufgestellt, sie senden die Bilder in alle Welt. Die Reporterin eines spanischen Senders hat sich für ihren Bericht einen Mundschutz und Plastikhandschuhe übergestreift, auch wenn die Verkehrsinsel ein eher sicherer Ort zu sein scheint. Italien schwankt zwischen Alarm und Alarmismus.

Casalpusterlengo zählt zu den zehn Gemeinden in der Lombardei, die die italienische Regierung wegen des Coronavirus per Notfalldekret von der Außenwelt isoliert hat. 50 000 Menschen sind betroffen, es regt sich keinerlei Protest gegen die Maßnahmen, sie werden als notwendig hingenommen.

Eines der bislang sieben italienischen Todesopfer starb im Nachbarort, die 77-jährige Seniorin wurde leblos in ihrer Wohnung aufgefunden. Bei allen Opfern handelte es sich um alte Menschen mit Vorkrankheiten, am Montag wurde der Tod eines 88-Jährigen sowie einer Krebspatientin gemeldet. Die Behörden vermuten einen der beiden Infektionsherde im benachbarten Codogno.

Italien ist inzwischen nach China und Südkorea weltweit das Land mit den meisten festgestellten Infektionen. 229 waren es bei Redaktionsschluss, davon 172 in der Lombardei und 32 im Veneto, 18 in der Emilia-Romagna. Am Donnerstag waren gerade mal fünf Fälle gezählt worden. Die steigenden Zahlen haben einen inoffiziellen Ausnahmezustand ausgelöst. Nun stellen sich vor allem zwei Fragen: Ist die Verbreitung des Virus überhaupt noch aufzuhalten? Auch die Gemeinde Vo Euganeo bei Padua, wo ein zweiter Ansteckungsherd festgestellt wurde, ist seit Sonntag abgeriegelt. Doch Ansteckungen mit dem Virus wurden auch aus dem Trentino und dem Piemont gemeldet.

Die zweite Frage: Müssen sich auch andere Gegenden Europas auf Zustände wie in Casalpusterlengo einstellen? Die Freizügigkeit im Schengen-Raum ist eine der größten Errungenschaften der EU. Einschränkungen und Ausgangssperren wie im chinesischen Wuhan, dem Herd der Infektion, sind hierzulande kaum denkbar. Und doch erinnert Norditalien mancherorts an China. Die EU, die mit der Flüchtlingskrise 2015 zuletzt an ihre Grenzen stieß, wird nun auf eine neue Belastungsprobe gestellt.

Rosella Franchi, 69, lebt am Ortsrand von Casalpusterlengo. „Wir sind isoliert“, erzählt sie am Telefon. Niemand werde aus der abgesperrten Zone herausgelassen. Viele Leute gehen nicht mehr zur Arbeit, selbst die Regionalbahn, die täglich Tausende nach Mailand brachte, wurde eingestellt. Die zwei Bäckereien im Ort sind geöffnet, auch die beiden Supermärkte. Vor dem Großmarkt bilden sich Schlangen. Die Carabinieri lassen nur wenige Kunden hinein. Sie befürchten einen unkontrollierten Ansturm. Zwei Stunden stand Franchi am Montag in der Schlange. Drinnen dann leere Regale. „Obst, Gemüse und Fleisch gab es nicht mehr“, sagt sie.

Wenn Rosella Franchi Bekannte auf der Straße trifft, wird Abstand gehalten. Ein Gruß, zwei Sätze, kein Handschlag und schon gar kein Küsschen. „China und der Infektionsherd schienen so weit weg und jetzt sind wir mittendrin“, sagt sie.

Der Epidemiologe Pier Luigi Lopalco von der Uni Pisa sagt im Interview mit der Zeitung „La Repubblica“: „Möglicherweise wandert das Virus hier bereits seit Mitte Januar herum.“ Der plötzliche Anstieg der Infektionszahlen sei eher auf die vielen Tests zurückzuführen. Man weiß: Mehr als 80 Prozent der mit dem Coronavirus infizierten weisen keine oder nur ganz leichte Symptome wie Schnupfen oder Husten auf. „Wenn Sie in Deutschland Tests machen würden, kämen dort wahrscheinlich auch Fälle zum Vorschein“, so Lopalco.

Das Problem besteht darin, dass Italien die Person nicht findet, der das Virus aus China eingeschleppt haben könnte. Der „Patient Null“ ist nicht auffindbar. Anhand seiner Kontakte wäre die Infektionskette möglicherweise nachvollziehbar und die Ansteckungen einzudämmen.

Italiens Nachbarländer sind alarmiert. Am Sonntagabend wurde am Brenner der Eurocity Venedig–München gestoppt, weil zwei Frauen mit Husten und Fieber im Zug reisten. Erst um Mitternacht durfte der Zug weiterfahren, Fehlalarm. In Venedig sind zwei Senioren wegen des Virus im Krankenhaus, der Karneval wurde abgesagt. Im französischen Lyon wurde ein Bus mit Norditalienern angehalten, wegen Corona-Verdachts. Rumänien hat 14 Tage Quarantäne für Reisende verfügt, die aus der Lombardei oder Venetien einreisen. Auf Mauritius wurde 40 Italienern die Einreise verweigert, ohne dass die Flugzeug-Passagiere irgendwelche grippeähnlichen Symptome aufwiesen.

In der 1,5-Millionen-Stadt Mailand sind die Schulen und der Dom geschlossen. Auch Museen, Kinos und die Oper bleiben zu. Einige Modenschauen der Fashion Week wurden ohne Publikum ausgetragen, Fußballspiele fielen aus. Wer heiratet oder jemanden zu Grabe trägt, darf das nur im kleinen Kreis machen. Gottesdienste sind vorläufig suspendiert. Das sonst so lebendige Mailand liegt 60 Kilometer nördlich der abgesperrten Zone und wird Tag für Tag mehr zur Geisterstadt.

Ist das der Anfang von Corona oder das Ende? Wir wissen es nicht.

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