Istanbul/Athen – Die Flüchtlinge harren im Niemandsland aus, zwischen der Türkei und Griechenland. Manche sind seit Freitag am Grenzübergang Pazarkule – junge Männer aus Syrien, Afghanistan und dem Iran, aber auch Familien mit Kindern. Sie haben provisorische Zelte aus Holz und Plastik gebaut, Kleidung soll vor dem kalten, nassen Boden schützen. Auf einem Schild steht auf Englisch „Öffnet die Grenzen, wir sterben“. Der Iraner Emircan Ibrahimi (40) hält ein Schild mit der Aufschrift: „Merkel help!“ (Merkel hilf!)
Mehr als 13 000 Migranten halten sich nach UN-Angaben inzwischen im Grenzgebiet auf. Griechische Polizisten drängen die Menschen auch am Sonntag mit Tränengas, Schlagstöcken und Blendgranaten zurück. Drohnen kreisen am Himmel. Die türkischen Grenzpolizisten lassen die Migranten nicht zurück – die Menschen stecken am Grenzfluss Evros zwischen Griechenland und der Türkei fest.
Die EU fürchtet eine neue Flüchtlingskrise wie 2015 und reagiert mit Abwehrmaßnahmen. Die Grenzschutzbehörde Frontex schickt Verstärkung nach Griechenland. Politisch scheint die EU in einer Schockstarre. Der EU-Migrationskommissar Margaritis Schinas fordert wegen der Lage eine baldige Sondersitzung der EU-Innenminister. Antworten scheint Brüssel aber noch immer nicht zu haben, obwohl sich auch an der Südgrenze der Türkei, in der syrischen Provinz Idlib, ein neues Flüchtlingsdrama abspielt.
Der syrische Präsident Baschar al-Assad rückt dort mit Unterstützung Russlands unaufhörlich vor. Bald ein Drittel der drei Millionen Einwohner der Region sind laut UN inzwischen auf der Flucht vor Bombardements und Gefechten am Boden. Der Weltgesundheitsorganisation zufolge schlafen etwa 170 000 Menschen in Idlib im Freien, in Gesundheitseinrichtungen regiere das Chaos. Zehntausende sind in die syrisch-türkische Grenzregion geströmt. Doch die türkische Grenze ist geschlossen. Die Türkei hat seit Beginn des Bürgerkriegs 2011 ohnehin schon rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan steckt in einer Zwickmühle. Er will die Ankunft neuer Migranten in der Türkei unbedingt verhindern, gleichzeitig ist er in Syrien in die Defensive geraten. Nachdem am Donnerstag 36 türkische Soldaten bei einem Luftangriff in Idlib getötet wurden, spielte Erdogan seine letzte mögliche Karte aus, um Europa zur Unterstützung zu bewegen: die Flüchtlingskarte.
Zuerst waren es nur Gerüchte. Die Grenze sei offen, hieß es in regierungsnahen Medien. Der arabische Dienst des Staatssenders TRT twitterte am Freitag gar eine Karte auf dem Migrationswege von Idlib in die EU eingezeichnet waren. Am Samstag dann erklärte Erdogan offiziell, die „Tore“ seien geöffnet. Tausende machten sich auf den Weg.
Mohammed aus dem syrischen Aleppo sagt, er sei mit seiner Familie sofort vom zentralanatolischen Konya nach Istanbul gefahren, als er von der Nachricht gehört habe. Dort hätten kostenlose Busse, organisiert von der türkischen Regierung, bereitgestanden und ihn an die Grenze gebracht. Nun geht es auch für ihn nicht weiter. Der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis erklärte, keine illegalen Grenzübertritte zu erlauben. „Griechenland hat nichts mit der Krise in Syrien zu tun und wird nicht den Preis dafür bezahlen.“
Noch komplizierter als am Fluss Evros an der Landesgrenze ist die Lage auf den griechischen Inseln im Osten der Ägäis: Dort können die Migranten, die mit Schlauchbooten aus der Türkei übersetzen, nicht gestoppt werden. Das Abdrängen von Migranten ist verboten, dennoch sollen aufgebrachte Bewohner der Insel Lesbos rund 25 Migranten vorübergehend daran gehindert haben, an Land zu gehen. Allein bis Sonntagmittag kamen rund 500 Flüchtlinge auf den griechischen Inseln an.
Der Flüchtlingspakt zwischen der Türkei und der EU steht damit rund vier Jahre nach seiner Entstehung auf dem Spiel, auch wenn die EU nach wie vor betont, dass sie von der Türkei erwarte, die Vereinbarung einzuhalten. In dem Abkommen von 2016 hatte die Türkei unter anderem zugesagt, gegen illegale Migration vorzugehen. Ankara erhält im Gegenzug unter anderem finanzielle Hilfe.
Die „unschönen Bilder“ an den EU-Grenzen seien von der Türkei bewusst kalkuliert, sagt Günter Seufert, Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) in Berlin. Die Türkei wolle damit Druck auf die EU und die Nato ausüben, damit diese wiederum den Druck auf Russland erhöhen. Denn in Idlib braucht Erdogan die Unterstützung der Europäer. Zwar verübte die Türkei massive Vergeltungsangriffe, wie sie es nennt, auf syrische Truppen und greift weiter an. Auf Dauer wird sich die Türkei aber wohl nicht gegen die syrische Regierung und ihren Partner Russland behaupten können, die die Lufthoheit haben. Damaskus hat inzwischen den Luftraum in Nordwestsyrien gesperrt.
Erdogan, der sich mit Russlands Präsident Wladimir Putin grundsätzlich gut versteht, hat sich Russland in den vergangenen Jahren immer mehr angenähert. Er hat die USA verärgert, weil er das Raketenabwehrsystem S-400 von Moskau gekauft hat. In Europa hat Erdogan für eine sogenannte Sicherheitszone in Syrien geworben, um Flüchtlinge dort anzusiedeln. Unter anderem wegen Erdogans zweifelhaften Militäreinsätzen stieß das auf wenig Gegenliebe.