Die erste Absage seit über 70 Jahren

von Redaktion

7 Millionen Mass Bier, die nicht getrunken werden. Über 100 Ochsen, die nicht verspeist werden. Und Milliarden von Viren, so die Hoffnung, die nicht übertragen werden. Söder und Reiter greifen zum ultimativen Mittel der Corona-Bekämpfung – sie sagen die Wiesn ab. Das gab es seit Ewigkeiten nicht mehr.

VON STEFAN SESSLER UND SABINE DOBEL

München – Der „Schichtl“ ist das älteste Geschäft der Wiesn, Gründungsjahr 1869. Seit weit über einem Jahrhundert wird in dem Varieté-Theater im Akkord geköpft. David Copperfield und das Magierduo Siegfried und Roy haben sich die „Enthauptung eines lebenden Menschen mittels Guillotine“ schon angeschaut. Otti Fischer, Rainhard Fendrich, Michaela May und Roger Moore lagen bereits unterm Fallbeil. Der Tod, also der Bühnentod, ist Manfred Schauers großes, fast schon weltberühmtes Kunststück. Doch heuer wird real gestorben. „Das ist wie, wenn ein lieber Mensch einfach verloren geht“, sagt der 67-jährige Münchner, der den „Schichtl“ seit 1985 betreibt. „Es ist verheerend.“

Manfred Schauer spricht von der Absage des Oktoberfests. Es ist ein Ereignis, das eigentlich nicht sein kann. München ohne Rausch, ohne Wiesn? Eigentlich undenkbar. Schauer geht es wie vielen seiner Schaustellerkollegen. Sie haben irgendwie damit gerechnet, dass die Politiker die Notbremse ziehen – aber die endgültige Absage haut doch noch mal rein, seelisch. „Die Wiesn“, sagt er, „ist mein Leben.“ Elf Menschen arbeiten im Theater, darunter ein baumlanger Henker, 30 weitere in der angeschlossenen Gastronomie. „Am 30. Mai wollten wir uns bei mir treffen, um den Ablauf des Oktoberfests zu besprechen – jetzt wird es ein Leichenschmaus.“

Kaum ein Münchner hatte in den letzten Wochen Hoffnung, dass das größte Volksfest der Welt doch noch stattfinden kann. Die Wiesn, sie wäre die Mutter aller Virenschleudern. Dagegen ist Après-Ski in Ischgl ein Kindergeburtstag. Weit über vier Millionen Besucher aus dem Freistaat, dazu fast zwei Millionen Gäste aus allen Zipfeln dieser Welt, literweise Bier, Bussis und Stehtanz auf der Bierbank – wenn man hundert Virologen sagt, sie dürfen nur ein Fest weltweit verbieten, die Chance ist groß, dass sie die Wiesn aussuchen.

Trotzdem ist es eine historische Entscheidung, die gestern bekannt gegeben wurde – erstmals seit über 70 Jahren gibt es in München kein Oktoberfest (siehe Artikel unten). „Es ist das schönste Fest der Welt“, sagt Ministerpräsident Markus Söder (CSU) bei der Pressekonferenz in der Staatskanzlei. „Aber wir leben in anderen Zeiten.“ Deswegen hat er zusammen mit Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) die finale Entscheidung getroffen: Kein Oktoberfest, das am 19. September hätte beginnen sollen – und parallel auch kein Zentrales Landwirtschaftsfest. „Es tut uns weh, es ist unglaublich schade“, sagt Söder. Aber die Wiesn könne nur „gscheid oder gar nicht“ stattfinden. „Wir sind übereingekommen, dass das Risiko schlicht und einfach zu hoch ist.“

Abstand halten ist in den überfüllten Zelten schlicht ausgeschlossen – es widerspricht auch den goldenen Regeln der bayerischen Gemütlichkeit, bei denen Spontan-Verbrüderungen im Festzelt ein Wesenskern sind. „Wir alle werden das Oktoberfest schmerzlich vermissen“, sagt OB Reiter. „Auch im Geldbeutel.“ Über 1,2 Milliarden Euro war der Wirtschaftswert der Wiesn für die Landeshauptstadt im Jahr 2019. Allein für Übernachtungen gaben auswärtige Gäste 505 Millionen Euro aus, weitere 442 Millionen Euro werden auf der Theresienwiese umgesetzt – mit Bier, Hendl, Fünferlooping, gebrannten Mandeln, Wiesnherzen oder eben dem Eintritt zur Hinrichtung beim „Schichtl“. Etwa 13 000 Arbeitsplätze gibt es laut Wirtschaftsreferat auf dem Oktoberfest selbst. „Es ist eine bittere Pille“, sagt Reiter. Aber es gibt keine andere Wahl – zu groß ist die Sorge, eine zweite Infektionswelle auszulösen.

Die Wirte haben insgeheim schon längst mit der Entscheidung gerechnet. „Angesichts der Tatsache, dass es wohl noch einige Zeit dauern wird, einen Impfstoff und wirksame Medikamente gegen die Lungenkrankheit Covid-19 zu entwickeln, war dieser Schritt logisch und notwendig“, sagt Peter Inselkammer, der Sprecher der Münchner Wiesnwirte. „Die Gesundheit unserer Gäste liegt uns besonders am Herzen und hat oberste Priorität.“

Die Festzelte dürften annähernd 300 Millionen Euro einnehmen, schätzte Ralf Zednik, Marktforscher bei Tourismus München vor der letzten Wiesn. Eine gute Kellnerin kommt Schätzungen zufolge auf 10 000 Euro in den zwei Wochen. Das sind alles enorme Summen, die dieses Jahr wegbrechen. Vom Festwirt über den Karussellbetreiber bis zu Sicherheitskräften und Breznverkäufern: Für sie alle ist die Absage ein schwerer Schlag. Vor allem aber trifft sie die Schausteller, sagt Clemens Baumgärtner. Der CSU-Politiker ist Münchens Wirtschaftsreferent und damit Wiesn-Chef. „Diese Branche“, sagt er, „wird im Jahr 2020 keinerlei nennenswerte Umsätze generieren. Für viele droht wohl das wirtschaftliche Aus.“

Denn es ist nicht nur die Wiesn, die der Ministerpräsident gestern absagte. Das gelte auch für ähnliche Feste in Bayern, so Söder. Sprich: Das Rosenheimer Herbstfest, der Gillamoos in Abensberg, das Gäubodenfest in Straubing und viele andere werden heuer nicht stattfinden.

Es ist ein trauriges Jahr für alle Freunde der Tracht und des Biers. „Schichtl“ Manfred Schauer weiß jetzt schon, dass der Anstichtag, der jetzt ausfällt, schwer für ihn werden wird. Er geht davon aus, dass er die Wiesn am 19. September besonders vermissen wird. Aber er hat einen Plan – „vielleicht trinke ich am Fuße der Bavaria eine Mass Bier“.

Eine Mass der Hoffnung, dass die Welt 2021 wieder ganz anders ausschaut – und die Köpfe beim „Schichtl“ dann endlich wieder rollen.

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