München – Eine virologischer Fachbegriff ist in Deutschland zu einem Politikum geworden – die Reproduktionszahl R. Um die Epidemie abflauen zu lassen, streben Experten und Politik eine Reproduktionszahl von unter 1 an – das bedeutet, dass ein Mensch weniger als einen anderen Menschen ansteckt. Anfang der Woche sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel : „Je nachhaltiger die Reproduktionszahl unter eins geht, desto mehr und nachhaltiger können wir auch wieder öffentliches, soziales und wirtschaftliches Leben entfalten.“
Allerdings schreibt das Robert-Koch-Institut (RKI) in einem Bericht vom 15. April, dass der Wert „sich etwa seit dem 22. März um R = 1 stabilisiere“ (wir berichteten). Auf einer Grafik sieht man, dass der Wert seither konstant unter 1 liegt. Der harte Lockdown mit Ausgangssperren und Betriebsschließungen wurde aber erst danach, am 23. März verkündet – ausgerechnet einen Tag später.
Jetzt gibt es Stimmen, die sagen, man hätte die Wirtschaft nie und nimmer runterfahren müssen – denn Deutschland war bereits in der Erholungsphase. Ein harter Vorwurf. Er bedeutet im Umkehrschluss: Eigentlich müssten die strengen Maßnahmen sofort beendet werden. Haben die Kanzlerin und führende Politiker des Landes überreagiert – womöglich wider besseren Wissens?
Jetzt wehrt sich das RKI gegen diese Interpretation der Zahlen. Die Reproduktionszahl konnte aus methodischen Gründen nur im Nachhinein abgeschätzt werden, heißt es, und zwar mit einer Verzögerung von etwa zehn Tagen. Am 23. März konnte demnach niemandem – auch Merkel nicht – bekannt gewesen sein, wie hoch die Reproduktionszahl war. Bekannt war hingegen, dass die Zahl der Neuinfektionen bis zum 22. März massiv anstieg.