„Was wir hier erleben, steht in keinem Lehrbuch“

von Redaktion

Noch sind die Krankenhäuser in Deutschland nicht überlastet. Aber schon heute spielen sich dramatische Szenen auf den Intensivstationen ab. Bei vielen Patienten bleibt den Ärzten und Pflegern mangels geeigneter Medikamente nur noch die Hoffnung. Die körperliche und psychische Belastung ist enorm. Auch im Deutschen Herzzentrum in München.

VON ANDREAS BEEZ

München – Auch nach Wochen im Krisenmodus bleibt das Coronavirus eine Rechnung mit vielen Unbekannten. In Deutschland haben sich bislang, gemessen an der Bevölkerungszahl, relativ wenige Menschen angesteckt. Laut den Behörden sind es bisher über 157 000 von 83 Millionen Bundesbürgern. Selbst wenn man von einer zehn Mal so hohen Dunkelziffer ausgeht, wären also gerade mal zwei Prozent der Deutschen infiziert. Und die allermeisten Erkrankten kommen relativ glimpflich davon. Die Virologen warnen dennoch unablässig davor, jetzt unvorsichtig zu werden. Denn Sars-CoV-2 sorgt auf Deutschlands Intensivstationen Tag für Tag für dramatische Szenen. Ärzte sind hilflos, Menschen sterben.

„Es ist erschütternd, wie extrem Covid-19 bei schweren Verläufen die Lunge angreift“, berichtet Professor Rüdiger Lange. Der 66-Jährige ist Ärztlicher Direktor des Deutschen Herzzentrums an der Lazarettstraße (siehe Interview unten). Auf der Intensivstation der Klinik kämpfen Ärzte und Pflegekräfte unablässig um das Leben der Corona-Patienten. Die Zahl schwankt von Tag zu Tag, zuletzt wurden fünf Schwerkranke hier behandelt.

Die Intensivstation 1.1. im Critical Care Center (CCC) des Herzzentrums ist hermetisch abgeriegelt. Vor dem Eingang der Spezialklinik stehen Screening-Zelte. Jeder, der ins Gebäude will, muss hier Fieber messen lassen und Fragen zu möglichen Symptomen beantworten. „Wir arbeiten mit höchsten Sicherheitsstandards“, sagt Lange.

Hinter einer zusätzlich eingebauten Infektionsschutztür liegen schwerkranke Covid-19-Patienten, darunter ein älterer Mann. Die Schwestern spielen ihm gerade eine CD vor. Seine Familie hat die Musik extra für ihn aufgenommen, weil sie ihren geliebten Vater und Großvater nicht besuchen darf. Nach jedem Lied kommt eine Botschaft, von den Kindern, von den Enkeln. Wie sehr ihn alle vermissen. Was sie bald wieder zusammen unternehmen wollen. Dass er nicht aufgeben soll. „Du hörst zu und musst machtlos mitansehen, wie der Patient stirbt. Mit solchen Szenen musst du erst einmal klarkommen“, sagt Isabell Dabruck (32) nachdenklich.

Seit zwölf Jahren schon arbeitet die Fachkrankenschwester für Anästhesie und Intensivmedizin auf der Intensivstation. Doch seit Ausbruch der Corona-Pandemie betreten selbst erfahrene Spezialisten wie Dabruck an jedem Arbeitstag Neuland: „Wir haben Schulungen zu Covid-19 erhalten. Aber das, was wir hier gerade erleben, steht in keinem Lehrbuch, das ist ein komplett neues Krankheitsbild. Das Beunruhigende ist, dass du gegen einen Feind kämpfst, den du nicht kennst, den du nicht siehst, den du nicht greifen kannst.“

Zur psychischen Belastung kommt die körperliche. Bis zu zwölf Stunden dauern die Schichten des Pflegepersonals – und das unter verschärften Arbeitsbedingungen. Allein das Anziehen der Schutzkleidung dauert zehn Minuten. „Es ist sauheiß unter den Masken, man schwitzt permanent. Und das Atmen fällt auf Dauer sehr schwer“, berichtet Simone Leierer (26).

Auf der Intensivstation sind Schutzmasken mit mindestens FFP2-Standard Pflicht, darüber zieht Leierer eine Art Gesichtsmaske. Um das Risiko einer Schmierinfektion zu minimieren, ziehen alle zwei, manchmal drei Paar Handschuhe übereinander an. Auch beim Ablegen der Ausrüstung müssen die Spezialisten hochkonzentriert sein und strenge Vorschriften einhalten, damit sie sich nicht mit dem Virus anstecken. Schon eine kleine Unachtsamkeit könnte fatal sein. „Die Angst kann man nicht wegschieben. Sie ist permanent da, sobald du die Station betrittst.“

Wie man das alles psychisch aushält? „Mit ganz viel Teamgeist und mit einer Portion Galgenhumor. Der ist manchmal genauso wichtig wie die Schutzkleidung“, sagt Johanna Scherf (62), Leiterin der Covid-19-Intensivstation. Ihre Pflege-Mitarbeiter verdienen im Schnitt etwa 2000 Euro netto pro Monat. Dafür müssen sie das unheimliche Virus oft direkt ins Visier nehmen – im wahrsten Sinne des Wortes: Mit einem Gesichtsschutz aus Plastik arbeiten sie ganz nah am Patienten, putzen ihm die Zähne, richten die Beatmungsschläuche und helfen mit, wenn die Ärzte Wiederbelebungsmaßnahmen ergreifen müssen.

Solche Erlebnisse kann man kaum auf der Station zurücklassen, sie arbeiten auch nach Feierabend im Kopf weiter. „Jede von uns hat ihre eigene Strategie, damit umzugehen“, erzählt eine Schwester. Aber eine Gewissheit schweißt alle Kollegen auf der Intensivstation zusammen: dass es dort schwerkranke Menschen gibt, die sie einfach brauchen.

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