München – Die Radwege in München sind voll wie nie. Allein im April sei der Radverkehr um 20 Prozent gestiegen, sagt Katrin Habenschaden, die neue grüne zweite Bürgermeisterin. Corona ist, wenn man so will, zur Antriebswelle eines der Lieblingsverkehrsmittel der Grünen geworden. Aber auch Bürgermeister Dieter Reiter (SPD) hatte sich schon vor der Wahl klar positioniert: weniger Autos, mehr öffentliche Verkehrsmittel und Radl.
In Zeiten von Corona haben viele Städte auf der ganzen Welt das Fahrrad als Wundermittel entdeckt. Wer radelt, verstopft die Straßen nicht. Und wer radelt oder zu Fuß geht, steckt keinen an.
Londons Bürgermeister Sadiq Khan sagt: „Viele Londoner haben während der Ausgangssperre die Freuden des Radfahrens und Zufußgehens wiederentdeckt.“ Er hat gerade erst drastische Schritte angekündigt, um den Autoverkehr in London City einzudämmen (siehe Artikel unten).
Auch in Brüssel, Paris, New York oder Mailand ist das Fahrrad plötzlich das Verkehrsmittel der Stunde. Mancherorts ploppten über Nacht neue Fahrradspuren aus dem Boden. Es scheint so, als ob Covid-19 die Verkehrswende, über die jahrzehntelang in jedem Stadtrat der Welt gestritten wurde, im Schnelldurchlauf zu Ende bringt.
In München lief die Verkehrswende auch vor Corona an – aber eher im Bremsmodus. Es bedurfte des Drucks der Bürger, um die Bremsen zu lösen. 160 000 Münchner unterschrieben für ein Bürgerbegehren, das einen massiven Ausbau des Radwegenetzes und mehr umweltschonende Verkehrsmittel forderte. Der Stadtrat beschloss vor einem Jahr, die Forderungen umzusetzen. Demnach sollen im Stadtgebiet bis 2025 Radwege auf einer Streckenlänge von 450 Kilometern ausgebaut werden – für 1,5 Milliarden Euro.
Die CSU, damals noch in der Stadtregierung, stimmte zähneknirschend mit. Im Wahlkampf dann kündigte die CSU an, die Radwege-Offensive nicht bedingungslos abzunicken. Man ahnte offenbar schon, dass man in die Opposition muss.
Die Kommunalwahl hat Rot-Grün eine komfortable Mehrheit verschafft und die Wende könnte durch den virusbedingten Radl-Boom vielleicht noch mehr Fahrt aufnehmen. Viele Maßnahmen sind in Arbeit, das Fahrrad spielt eine zentrale Rolle.
In den kommenden Jahren sollen – zu Lasten von Autospuren – sternförmig vom Zentrum ins Umland führende Radschnellwege entstehen. Der Schnellweg über die Leopoldstraße nach Garching ist schon in Planung. Der Bau des Altstadt-Radlrings soll noch diesen Sommer beginnen. Fahrspuren und Parkplätze fallen weg. „Wer nur zum Einkaufen kommt, kann gut in den Parkhäusern rund um den Altstadtring parken“, sagt Habenschaden. In 20 großen Straßen wie der Ridler-, Lindwurm- oder Rosenheimer Straße sind neue oder breitere Radwege beschlossen, die Liste soll ständig länger werden. 40 neue Fahrradstraßen soll es bis 2025 geben und es laufen Pilotprojekte wie „Flex-Parken“: Autos dürfen auf bestimmten Parkplätzen nur noch von 23 Uhr bis 9 Uhr morgens parken, tagsüber sind Fahrräder am Zug.
Die Vision hinter all dem? 80 Prozent der Wege, sagt Habenschaden, sollen bis 2025 „durch emissionsfreie Fahrzeuge zurückgelegt werden“. Das können auch E-Autos sein. „Es gibt Menschen, die brauchen den Individualverkehr, das gehört zu einer funktionierenden Stadt. Da sprechen wir vom Wirtschaftsverkehr oder von mobilitätseingeschränkten oder älteren Menschen.“
Habenschaden betont, es gehe nicht um einen Feldzug gegen Autofahrer, sondern um eine moderne Form der Mobilität, umweltfreundlich und möglichst staufrei. Denn das wachsende München steht vor dem Verkehrskollaps, das bestreitet niemand. Das Rad ist ein Baustein, der öffentliche Nahverkehr der zweite. Der Ausbau von Bus und Bahn müsse „parallel gehen zum Fahrrad“, sagt die Bürgermeisterin „Denn richtig gut wird eine Verkehrswende nur im Verbund.“
In der Debatte geht es auch um ideologische Fragen, vor allem für die CSU, deren Wähler vielfach Pendler sind. Dass das Verkehrsproblem in der Region gelöst werden muss, ist auch der CSU klar, die Frage ist wie. Die rot-grüne Offensive teilt die CSU nur begrenzt. Manuel Pretzl, Fraktionschef im Stadtrat, sagt: „Es gibt sicher Stellen, wo der Radverkehr sehr gefährlich ist und wo man was tun muss. Es gibt aber auch Stellen wie an der Leopoldstraße, wo es ein paar Engpässe gibt. Dort würden ein paar kleinere Maßnahmen reichen. Es braucht bestimmt keine Radlautobahn für 40 Millionen Euro, für die dann 1000 Parkplätze wegfallen.“ Pretzl spricht von rotgrünem Aktionismus, wegfallenden Anlieferzonen, Handwerkern, die keinen Parkplatz finden und neuen Staus. „Auf der Ludwigsbrücke gleich beim Gasteig, wo zwei Autospuren weggefallen sind, gab es trotz Corona schon heftige Staus“, sagt er. „Da kann man sich vorstellen, was passiert, wenn alle wieder normal zur Arbeit fahren.“
Habenschaden sieht das anders. „Mit einer gut gemachten Verkehrswende kommen alle besser von A nach B – auch die Autofahrer“, sagt sie. „Der Verkehr muss sich dahin ändern, dass wir am Stadtrand für Pendler gute Möglichkeiten haben, auf den ÖPNV umzusteigen.“
Oder Pendler einen der Radschnellwege nutzen. Ob das Konzept auch im Winter funktioniert? „Da bin ich ganz optimistisch“, sagt Habenschaden und verweist auf den Radschnellweg Ruhr, der am Ende über 101 Kilometer von Duisburg bis Hamm reichen soll. „Der ist hoch frequentiert. Viele Pendler nutzen ihn das ganze Jahr – auch bei schlechtem Wetter.“