Thüringen nimmt die Maske ab, Bayern droht

von Redaktion

VON A. HUMMEL, S. SESSLER, C. CORNELIUS UND S. KUNIGKEIT

München/Erfurt – Im Ringen um den richtigen Weg in der Corona-Pandemie ist Thüringen vorgeprescht. Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) will vom 6. Juni an auf die gültigen Corona-Schutzvorschriften verzichten. Damit würden die bisherigen Regeln zu Mindestabständen, dem Tragen von Mundschutz sowie Kontaktbeschränkungen nicht mehr gelten.

Deutschlandweit waren in der Corona-Krise Kontaktbeschränkungen für die Bürger im öffentlichen Raum verhängt worden. Kanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten der Länder hatten Anfang Mai vereinbart, diese bis zum 5. Juni zu verlängern – danach will Ramelow in Thüringen nun also umsteuern. Auf seiner Internetseite schreibt er: „Das Motto soll lauten: Von Ver- zu Geboten, von staatlichem Zwang hin zu selbstverantwortetem Maßhalten.“ Anstatt der landesweiten Regelungen soll es regionale Maßnahmen abhängig vom Infektionsgeschehen vor Ort geben.

Bayerns Staatsregierung hat den Thüringer Weg mit ungewohnter Schärfe zurückgewiesen. Was das Bundesland plane, sei ein hochgefährliches Experiment für alle Menschen im Lande, sagte Florian Herrmann, der Leiter der Bayerischen Staatskanzlei. Für Bayern sei dies besonders problematisch, da Thüringen ein Nachbarland ist und dessen „Corona-Hotspot Sonneberg“ direkt an Bayern grenze. „Wir müssen uns nun überlegen, wie wir als Nachbar damit umgehen“, sagte Herrmann. Deutlicher kann man sein Misstrauen kaum formulieren.

Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach (SPD) hält das Vorpreschen Thüringens ebenfalls für falsch. „Das ist ganz klar ein Fehler“, sagte Lauterbach. Thüringen stelle genau die Maßnahmen in Frage, „denen man den gesamten Erfolg im Moment zu verdanken hat“. Michael Roth (SPD), Europa-Staatsminister im Auswärtigen Amt, twitterte am Sonntag, er wünsche allen Thüringerinnen und Thüringern und denen, die das Land besuchten, viel Gesundheit. „Der Föderalismus lässt es mal so richtig krachen und zeigt, was in ihm steckt. Wer schützt jetzt die vielen Vernünftigen vor den wenigen Verantwortungslosen?“

Der Thüringer Weg wird noch für massiven Streit sorgen. Aber er ist Wasser auf die Mühlen vieler Öffnungsbefürworter, die sich auch auf neue Zahlen berufen. Ende April sind in Deutschland geringfügig mehr Menschen gestorben als im Schnitt der vergangenen Jahre. Darauf deuten vorläufige Zahlen des Statistischen Bundesamts hin: Vergleicht man den Zeitraum 20. bis 26. April mit den Werten dieser Woche in den Jahren 2016 bis 2019, waren es drei Prozent mehr. Italien berichtet von 49 Prozent mehr Toten im März 2020 im Vergleich zum Durchschnitt der Jahre 2015 bis 2019.

Deutschland kommt vergleichsweise gut durch die Krise. Thüringen zieht daraus seine eigenen Schlüsse. Ramelow begründete das geplante Ende mit der aktuellen Infektionslage – zuletzt hatte das Land an manchen Tagen weniger als zehn neue, gemeldete Fälle. „Der Erfolg“, sagt der Landeschef, „gibt uns mit den harten Maßnahmen Recht – zwingt uns nun aber auch zu realistischen Konsequenzen und zum Handeln.“

Mit Blick auf neue Infektionsfälle (siehe Artikel unten) nach Gottesdienst- und Restaurantbesuchen rief Grünen-Bundestagsfraktionschefin Katrin Göring-Eckardt die Länder auf, ihre Regeln zum Schutz vor dem Coronavirus immer wieder auf die Wirksamkeit hin zu überprüfen. „Viele von ihnen haben die Lockerungen vorangetrieben“, sagte sie. „Sie müssen jetzt aufpassen, dass uns die Situation nicht entgleitet.“

Wie schnell sich Infektionszahlen ändern können, sieht man im ostfriesischen Landkreis Leer. Im Zuge einer Feier im Restaurant „Alte Scheune“ haben sich mindestens 18 Menschen angesteckt, 14 im Lokal selbst, vier in der Folge. 118 Menschen sind in Quarantäne. Der Betreiber des Lokals hat am 15. Mai 40 Gäste eingeladen, um die Wiedereröffnung zu feiern. Dabei sollen Abstands- und Hygieneregeln missachtet worden sein. „Die Fälle zeigen: Wir müssen weiterhin wachsam sein“, sagte Göring-Eckardt.

Selbst in Thüringen gibt es viele kritische Stimmen zu Ramelows Weg. „Mir scheint das ein Gang aufs Minenfeld“, schreibt Jenas OB Thomas Nitzsche (FDP) auf Facebook. „Wo’s kracht, da gibt’s halt lokal einen zweiten Lockdown. Soll das wirklich unsere Strategie sein in Thüringen?“ Im Kampf gegen das Virus war Jena als Thüringens zweitgrößte Stadt bundesweit Vorreiter in Sachen Maskenpflicht. Jetzt ist das Bundesland wieder Vorreiter – aber in die entgegengesetzte Richtung.

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