1. Die Pest: Juden haben die Brunnen vergiftet
Die Pest war schon bei den Römern bekannt. Doch als der „Schwarze Tod“ um 1347 Europa heimsuchte, erreichte die Seuche ungeahnte Ausmaße: Rund 25 Millionen Menschen fielen ihr zum Opfer. Über die Türkei, Italien, Spanien, Frankreich und die Schweiz erreichte sie 1348 Deutschland. Die Übertragung des Bakteriums Yersina pestis durch Flöhe über Ratten war unbekannt.
Vermutlich, weil die Juden aufgrund ihrer strengen rituellen Hygieneregeln später krank wurden, waren sie bald als Urheber ausgemacht: Man verdächtigte sie, die Brunnen vergiftet zu haben, um den Weg für die „jüdische Weltherrschaft“ zu ebnen. Der Vorwurf war nicht neu. Doch am Ende des 14. Jahrhunderts führte er zu massiven Pogromwellen in Europa.
Vor allem unter Angehörigen des dritten Standes – Bürger, Handwerker und Ungebildete – war die Theorie weit verbreitet. Doch auch in einigen Reichsstädten wurden vom Magistrat Hinrichtungen angeordnet. Hunderttausende Juden wurden auf Scheiterhaufen verbrannt, rund 350 jüdische Gemeinden ausgelöscht.
Papst Clemens VI. (1290–1352) sprach zwar in mehreren Bullen die Juden von der Verantwortung mit logischen Argumenten frei: Schließlich waren auch asiatische Regionen, wo es keine Juden gab, betroffen. Und es erkrankten auch Juden. Clemens drohte Judenverfolgern sogar die Exkommunizierung an – mit wenig Erfolg. Selbst Martin Luther wiederholte 200 Jahre später den Vorwurf des Brunnenvergiftens durch Juden als Ursache der Pest.
2. Syphilis: Gottes Strafe für Unkeuschheit
Lange glaubte man, die Syphilis wäre von Christoph Kolumbus 1492 von seiner Amerikareise nach Spanien eingeschleppt worden. Vermutlich aber gab es sie in Europa bereits in der Antike. Ab Ende des 15. Jahrhunderts breitete sich die Krankheit epidemisch aus. Die Schuld an der Syphilis wurde immer der verfeindeten Nation zugeschrieben: In Deutschland war es die „Französische Krankheit“, in Frankreich nannte man sie die „Spanische Krankheit“. Aber sie ist in verschiedenen Sprachen auch als neapolitanische, kastilische, englische, schottische oder polnische Krankheit benannt.
Der veronesische Arzt Girolamo Fracastoro prägte den Namen „Syphilis“ – und damit auch einen Entstehungsmythos: Der Schafhirt Syphilus wird wegen Gotteslästerung und Sodomie mit einer neuen Krankheit bestraft. Die katholische Kirche, die im Mittelalter ohnehin Krankheit als Strafe Gottes interpretierte, nahm diese Theorie auf, da die Krankheit eine „Lustseuche“ war – sprich durch Geschlechtsverkehr übertragen wurde.
Syphiliskranke wurden lange geächtet und mussten in Seuchenhäusern, so genannten „Franzosenhäusern“, leben. Badern und Chirurgen wurde untersagt, sie zu behandeln. Damit ging in der bis dahin lebensfrohen und liberalen Gesellschaft des Mittelalters ein gesellschaftlicher Wandel hin zur Sittlichkeit einher: Die beliebten Badehäuser galten bald als unschicklich, ebenso der bis dahin geduldete außereheliche Beischlaf.
3. Cholera: Schuld sind geldgierige Ärzte
Auch im 19. Jahrhundert tauchte die Idee des Brunnenvergiftens und des absichtlichen Infizierens durch Juden wieder auf. Als sich 1831 die Cholera in Europa ausbreitete, wurden in manchen Kommunen Deutschlands Juden unter Quarantäne oder unter strenge sanitätspolizeiliche Kontrolle gestellt, da man sie der Ausbreitung verdächtigte.
Immer mehr jedoch richtete sich – vor allem in Preußen – der Verdacht gegen Ärzte und Apotheker: Diese wollten, so das Gerücht, mit der Cholera die Überbevölkerung reduzieren oder durch die Quarantäne Preise hochtreiben. Der preußische König würde ihnen pro Toten zwei bis drei Taler bezahlen. „Weißes Pulver“ sei ihr Handwerkszeug, mit dem sie Menschen krank machten.
Man unterstellte Medizinern außerdem, dass sie „Menschenmaterial“ für Experimente gewinnen wollten. Kranke flüchteten aus den Lazaretten – aus Furcht, dort getötet zu werden. Andere wurden von Angehörigen gewaltsam „befreit“. In Stettin demolierte der Pöbel medizinische Einrichtungen. In Königsberg formierte sich spontan ein Trauerzug mit Sympathisanten zur Demonstration: Dabei wurden Ärzte von der Menge verprügelt. Die Kavallerie setzte dem Treiben schließlich ein Ende – bei den Unruhen wurden sechs Demonstranten erschossen und ein Bürger erschlagen. Viele Jahre noch stellt Cholera eine hohe Bedrohung dar – allein in Hamburg sterben 1892 in einem heißen Sommer fast 9000 Menschen. Erst 1884 beweist Robert Koch, dass der Cholera-Erreger seinen Weg durch verunreinigtes Trinkwasser nimmt.
4. Spanische Grippe: „deutsches Gift“ im Theater
Von 1918 bis 1920 starben durch die Spanische Grippe über 40 Millionen Menschen weltweit – vermutlich mehr als durch den Ersten Weltkrieg. Ihren Namen bekam die Krankheit, weil die ersten Meldungen darüber aus Madrid stammten. Doch ihren Anfang nahm die Pandemie wahrscheinlich im Januar 1918 im Mittleren Westen der USA – vor allem in Kansas, wo der Influenza-Erreger vermutlich von Geflügel auf den Menschen übersprang.
Über die noch unbekannte Ursache kam eine Theorie auf, die sich rasch verbreitete: Es handle sich um ein Gift, das von der deutschen Armee entwickelt und verbreitet worden sei. Hintergrund waren wohl die frischen Eindrücke des Weltkriegs, vor allem durch die Giftgaseinsätze an der Front. Agenten hätten sich mit einem getarnten Schiff in den Bostoner Hafen eingeschlichen, um das „deutsche Gift“ zu verteilen, wie „Augenzeugen“ berichteten.
Im „Philadelphia Inquirer“, einer Tageszeitung, behauptete der hochrangige Marinesanitätsoffizier Philip S. Doane, die Deutschen seien per U-Boot gekommen und hätten die Erreger in öffentlichen Gebäuden wie Theatern verteilt. Eine weitere Theorie lautete, die Deutschen hätten absichtlich spanische Lebensmittel-Konserven verseucht.
Die Ausbreitung wurde schließlich durch Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen, Schulschließungen und das Tragen von Mundschutz gestoppt.
5. AIDS: Eine Biowaffe des Pentagons
Krankheitserreger als Kampfmittel – dieses Szenario ist nicht ganz unrealistisch. So arbeiteten die USA bereits im Zweiten Weltkrieg an einem Biowaffenprogramm mit dem Milzbranderreger (Anthrax). Seit 1972 ist dies durch die Biowaffenkonvention der Vereinten Nationen verboten. Da erschien es manchem plausibel, als ab 1983 das Gerücht kursierte, die neue „Lustseuche“ AIDS sei im US-Versuchszentrum Fort Detrick entwickelt worden. Dort habe man sie an Gefangenen und Homosexuellen getestet. Danach habe die US-Regierung – als Ablenkung – behauptet, der Ursprung liege ein Afrika.
In mehreren Zeitschriftenartikeln in Russland und Indien wurde diese These angeführt. Auch der deutsch-russische Biologe Jakob Segal, früherer Institutsleiter an der Humboldt-Universität, vertrat dies in pseudowissenschaftlichen Beiträgen und Interviews. Zahlreiche Wissenschaftler entlarvten Segals Haltung als Humbug – dennoch hielt sich die Verschwörungstheorie einer aus dem Ruder gelaufenen Biowaffenoperation hartnäckig.
Wie so oft gab es einen wahren Kern: Die US-Armee infizierte von 1954 bis 1973 tausende Freiwillige mit Gelbfieber, Hepatitis A, Pest oder Q-Fieber. Das Ziel: Impfungen gegen Krankheiten, die in einem biologischen Angriff der UdSSR eingesetzt werden könnten, zu testen. In den 1990er-Jahren bewies man aufgrund von KGB-Dokumenten, dass es sich um eine gezielte Desinformationskampagne der Russen im Kalten Krieg gehandelt hatte. Ziel der „Operation Infektion“ war es, die NATO international zu diskreditieren.
Dennoch hielten 1997 bei einer Umfrage 29 Prozent der Afroamerikaner die These, AIDS sei im Labor entwickelt worden, um schwarze Menschen zu töten, für wahr.
6. Ebola: Organverkauf in Sierra Leone & Guinea
Ebola wurde 1976 erstmals in Zaire festgestellt. Als es 2014 bis 2016 zu der bislang schwersten Epidemie kam, tauchte erneut die Theorie auf, dass es sich um Biowaffenversuche der US-Militärs handle – zum Teil von denselben Verschwörungstheoretikern wie bei AIDS. Cyril Broderick, Gastdozent der Delaware State University, behauptete 2014 in der liberianischen Zeitung „The Daily Observer“, dass im Auftrag der US-Regierung das Virus nach Sierra Leone gebracht wurde, um es an Menschen zu testen. Er gab jedoch 2015 zu, dass ihn der Thriller „The Hot Zone“ von Richard Preston zu seiner Annahme inspiriert habe.
Ein weiteres Gerücht entwickelte sich in Liberia, Sierra Leone und Guinea: In den afrikanischen Ebola-Stationen würden Menschen Organe entnommen und ins Ausland verkauft. In Guinea griffen 2014 Dorfbewohner Helferteams von medizinischen Hilfsorganisationen an, acht Helfer kamen dabei ums Leben. KLAUS MERGEL