München – Allein in Deutschland greifen Millionen Menschen bei Kopfschmerzen oder Erkältungen zu dem rezeptfrei erhältlichen Medikament Aspirin. Auch zur Vorbeugung von Herz-Kreislauferkrankungen wird Aspirin bzw. Acetylsalicylsäure (ASS) – so der Name des Wirkstoffs – oft eingesetzt. Gerade Senioren nehmen das Mittel mitunter täglich ein, um sich gegen einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu wappnen.
Dazu gibt es jetzt neue Erkenntnisse: So schützt Aspirin zwar viele gesunde Patienten, aber längst nicht alle – im Gegenteil: Manchen kann die beliebte Volkspille sogar schaden. Das hat sich bei einer wissenschaftlichen Analyse herauskristallisiert, die Mediziner um Privatdozent Dr. Thorsten Keßler vom Deutschen Herzzentrum München vorgenommen haben. Die Forschungsarbeit ist jüngst mit dem Präventionspreis der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) ausgezeichnet worden. In unserer Zeitung erklärt der Münchner Kardiologe die Ergebnisse der Forschungsarbeit, die den Umgang mit Aspirin in der Vorsorge verändern könnten.
Viele nehmen Aspirin, ohne krank zu sein
Im Deutschen Herzzentrum an der Lazarettstraße geben sich nicht nur nationale wie internationale Patienten die Klinke in die Hand. Die traditionsreiche Spezialklinik der Technischen Universität München (TUM) ist auch für ihre wissenschaftliche Arbeit weltweit bekannt. So zählt der Chefkardiologe Professor Dr. Heribert Schunkert, der auch im Vorstand der Deutschen Herzstiftung sitzt, zu den führenden Köpfen bei der Erforschung der genetischen Ursachen des Herzinfarkts.
Zu seinem Team gehört Oberarzt Dr. Thorsten Keßler – und der hat jetzt gemeinsam mit Forscherkollegen Aspirin genauer unter die Lupe genommen. Der Hintergrund: Aspirin wird im Volksmund als Blutverdünner bezeichnet. Vereinfacht erklärt hemmt es die Verklumpung von Blutplättchen, die in der Fachsprache Thrombozyten genannt werden – und soll so Gefäßverschlusse verhindern. Denn daraus können Schlaganfälle oder Herzinfarkte entstehen.
Deshalb wird beispielsweise Patienten mit einer Koronaren Herzerkrankung (KHK) oder Menschen, die bereits einen Infarkt erlitten oder einen Stent eingesetzt bekommen haben, meistens ASS bzw. Aspirin verordnet. Sie müssen das blutverdünnende Medikament lebenslang schlucken, um weitere Gefäßverschlüsse zu vermeiden.
Damit es bei (noch) gesunden Menschen mit einem erhöhten Herz-Kreislauf-Risiko gar nicht erst so weit kommt, nehmen viele Menschen auch vorsorglich täglich eine Aspirin-Tablette ein. „Zunächst ist man davon ausgegangen, dass Aspirin bei allen einen mehr oder weniger großen schützenden Effekt hat und dass dieser Nutzen mehr ins Gewicht fällt als das erhöhte Blutungsrisiko. Aber die wissenschaftliche Studienlage dazu hat dies nicht bestätigt“, sagt Keßler. Um die positive Aspirin-Annahme zu erhärten, wertete sein Team Daten gesunder Studienteilnehmer aus – mit einem erstaunlichen Ergebnis: Ob Aspirin gesunde Menschen schützt oder nicht, hängt vom Erbgut des Menschen ab.
Der DNA-Abschnitt „rs7692387“ hat Einfluss
So spielt ein genetischer Faktor eine zentrale Rolle, der das Risiko für Herz- und Gefäßerkrankungen erhöht. Wie sich bei der Analyse des Forscherteams herausgestellt hat, beeinflusst dieser Risikofaktor bzw. DNA-Abschnitt mit Namen „rs7692387“ auch die Wirkung von Aspirin. Das lässt sich sogar in konkreten Zahlen bemessen.
Wen Aspirin schützt: Etwa 63 Prozent aller Westeuropäer, also auch der Bundesbürger, haben den Risikofaktor in ihrem Erbgut. Genauer gesagt in beiden Allelen. Zur Erklärung: Jedes Gen gibt es doppelt, die Kopien werden in der Fachsprache Allele genannt. Bei Patienten mit der rs7692387-Risikovariante in beiden Allelen senkt die tägliche Aspirin-Einnahme laut den Münchner Erkenntnissen das Herzinfarktrisiko um 21 Prozent. Wem Aspirin schadet: Menschen, die die rs7692387-Risikovariante nur in einem oder keinem der Allele aufweisen, erhöhen mit der regelmäßigen Aspirin-Einnahme ihr Herzinfarktrisiko hingegen um 39 Prozent. Warum es diesen enormen Unterschied gibt, wissen die Wissenschaftler (noch) nicht. „Wir müssen weitere Studien vornehmen, um diesen Mechanismus besser zu verstehen“, sagt Keßler.
Im Zweifel Gespräch mit seinem Arzt suchen
Theoretisch könnte man schon jetzt mit einem einfachen Bluttest im Labor ermitteln, wer den Risikofaktor in sich trägt und damit für eine Prävention mit Aspirin infrage kommt. Aber eine solche molekulargenetische Diagnostik zur Vorsorge ist derzeit im medizinischen Alltag noch nicht vorgesehen, sie wird hauptsächlich zum Ausschluss von Erbkrankheiten wie familiärer Hypercholesterinämie genutzt. Dabei ist das schädliche LDL-Cholesterin im Blut massiv erhöht. „Sollte sich allerdings die Bedeutung von rs7692387 in Studien erhärten, könnte ein solcher Test mit Blick auf Aspirin möglicherweise bald angeboten werden“, glaubt Thorsten Keßler.
Zugleich warnt der Kardiologe herzkranke Patienten, sich von den neuen Erkenntnissen über Aspirin verunsichern zu lassen: „Sie sollten Aspirin wie verordnet unbedingt weiternehmen – und insbesondere nicht einfach absetzen. Denn dadurch würde man das Risiko erhöhen, erneut eine Herzattacke zu erleiden“, so der Kardiologe.
Wie aber sollten sich Patienten verhalten, die Aspirin gegen Schmerzen oder Fieber nehmen? „Wie bei anderen frei verkäuflichen Schmerzmitteln auch ist die Dosis und auch die Häufigkeit entscheidend“, sagt Keßler. „Man sollte nicht zu großzügig damit umgehen, aber wenn man gelegentlich mal eine Aspirin-Tablette einnimmt, wird das in der Regel nicht schaden.“
Je mehr und je öfter man zu der Volkspille greift, desto mehr steigt also das Risiko von Nebenwirkungen. Und die sind nicht ohne: Aspirin kann die Schleimhäute im Verdauungstrakt angreifen, dadurch Blutungen und Geschwüre in Magen und Darm begünstigen. Auch Asthmaanfälle und Nierenschäden sind bekannt. Wer Aspirin regelmäßig schluckt, sollte darüber unbedingt mit seinem Arzt sprechen.