Das Zittern der Lufthansa-Familie

von Redaktion

VON DIRK WALTER

München – Karin Müller steht am Rand der Freifläche am Munich Airport Center und ist den Tränen nahe. Seit 1985 ist sie Flugbegleiterin der Lufthansa und hat die ganze Welt gesehen. Zuletzt war sie im Februar in Shanghai. Seitdem: Kurzarbeit – und kein einziger Flug mehr. „Es ist eine Achterbahn der Gefühle“, sagt die Rosenheimerin. „Meine Tochter ist ja auch bei der Lufthansa.“

Am heutigen Donnerstag könnte über die Zukunft von Karin Müller und von über 100 000 Beschäftigten weltweit die Entscheidung fallen – und zwar virtuell. Die Hauptversammlung der Aktionäre entscheidet über die Annahme des neun Milliarden schweren staatlichen Rettungspakets – alle Blicke richten sich auf den Milliardär Heinz Hermann Thiele, der eine Sperrminorität besitzt. Lange war seine Zustimmung unsicher, erst gestern Abend erklärt er, für das Paket stimmen zu wollen (siehe Artikel unten).

Im schlimmsten Fall könnte es auf eine Insolvenz hinauslaufen, sagt Stunden zuvor Jens Hofmann von der „Technik Gewerkschaft Luftfahrt“, die gestern in München und an weiteren Flughäfen zum Protest aufrief. Etliche Lufthanseaten, die sich vor dem Terminal 2 versammeln, verkneifen sich bissige Kommentare zu dem 79-jährigen Unternehmer Thiele. Auch Flugbegleiter Nikolaus Moehren ringt um angemessene Worte: „Ich wünsche mir, dass er heute sieht, wer hinter der Lufthansa steht“, sagt er schließlich.

Die Lufthansa – das ist keine x-beliebige Firma. Vielmehr ein Konzern, den Vorstandschef Carsten Spohr auf wundersame Weise zu einem großen Ganzen zusammengeschweißt hat. Das wird am Mittwochnachmittag auf dem Airport Center immer wieder deutlich. „Da stehen Familien und Schicksale dahinter“, sagt Alexandra Lackmann. Sie ist erst seit 2017 bei der Kranich-Linie. Aber sie spricht von „Wir-Gefühl“, von einer großen „Familie“. Man spürt: Die Mitarbeiter eint ein gewisser Spirit, ein Teamgeist. Und das soll jetzt alles zerschlagen werden? Der Stolz der Lufthansa-Crew, die jetzt am Boden um Fassung ringt, ist auch an vielen selbst gemalten Schildern zu sehen. „Wir alle sind das Herz der Lufthansa“, steht da. Oder: „Rettet unsere Lufthansa“ – nicht die Lufthansa also, sondern unsere.

Gewerkschafter Hofmann glaubt noch an das Gute. 750 Techniker sind allein am Standort München bei der Lufthansa beschäftigt. Nein, depressiv sei die Stimmung nicht. Noch nicht. Hofmann hat sogar Lufthansa-Aktien – und sein Stimmrecht für die heutige Versammlung auf die Vereinigung Cockpit übertragen, damit die für das Rettungspaket stimmt. Die Lufthansa in München ist ein wichtiger Arbeitgeber mit geschätzt 14 000 Beschäftigten. Bisher erhalten sie eine Aufstockung auf das Kurzarbeitergeld. Klar ist aber, dass 22 000 Stellen in dem Konzern gestrichen werden sollen. „Rechnet man es auf Beschäftigte um, sind es noch mehr, nämlich 26 000“, sagt Flugbegleiter Moehren. Wird das Rettungspaket angenommen, dürfte der Stellenabbau langsam vollzogen werden – mit Vorruhestandsregelungen oder Abfindungen.

Noch instabiler ist die Lage bei vielen Firmen, die von dem Konzern abhängig sind. Ein Beispiel ist E.I.S. Aircraft – das Unternehmen wartet die Innenausstattung der Lufthansa-Jets, tauscht zum Beispiel kaputte Sitze und Armlehnen aus. In der Branche kursiert das Gerücht, dass die Aufträge durch die Lufthansa jetzt ausbleiben. „Da sieht’s düster aus“, meint ein Beteiligter. Auch der Flughafen selbst hätte an einer lang anhaltenden Krise der Lufthansa schwer zu schlucken. Schließlich sind der Flughafen und die Fluglinie eine langjährige Liaison eingegangen. Am Flughafen nennen sie es „strategische Partnerschaft“. Die Lufthansa war am Bau des Terminals 2 finanziell beteiligt, ebenso am Satellitenterminal. Und in einem „Letter of Intent“ haben die beiden Partner erst Ende 2019 vereinbart, das Satellitengebäude zu erweitern. An solche Zukunftsprojekte ist im Moment nicht zu denken.

Flugbegleiter Moehren hantiert nun mit einem Megafon und versucht, die Menge zu ordnen, denn am Nachmittag trudeln immer mehr Mitarbeiter auf die große Freifläche des Airport Centers. Angemeldet wurden 400, genehmigt nur 200, am Ende sind es fast 1000 Leute, die für ihr Unternehmen Flagge zeigen.

Auch die vornehme Welt des Konzerns ist da: die Kapitäne. Mit ihren drei Streifen am Ärmel stehen sie auf dem Platz. „Bis letzte Woche war ich nicht besorgt, jetzt hat sich das geändert“, sagt David Stauber, Senior First Officer an Bord von Langstrecken-Maschinen. Da weiß er noch nichts von Thieles Entscheidung. Staubers letzter Flug ging nach San Francisco. Das war im Februar.

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