Ein Superstau als Hilferuf

von Redaktion

VON KATHRIN BRAUN

Wallgau – Eigentlich kommen Urlauber ins Gästehaus Zunterer, um die Ruhe von Wallgau zu genießen. Chefin Katharina Zunterer, 34, kann das ihren Gästen aber schon lange nicht mehr versprechen – denn an jedem schönen Wochenende drücken sich Massen an Autos durch das kleine Dorf im Kreis Garmisch-Partenkirchen. Von morgens bis abends. „Als ich letzten Samstag zum Einkaufen geradelt bin, wollten unsere Gäste, eine Familie mit kleinen Kindern, gerade die Straße überqueren“, erzählt sie. „Als ich zurückkam, standen sie immer noch am gleichen Fleck.“

Seit Jahren klagen die Wallgauer über dieses Problem: Immer mehr Autofahrer nutzen das 1500-Einwohner-Dorf als Abkürzung für ihre Fahrt nach Innsbruck oder zum Gardasee. Eine verlockende Alternative: Urlauber weichen dem Stau auf der üblichen Route Richtung Kufstein aus – und genießen dafür auf der B 11 den Blick vom Kesselberg auf den Walchensee. Wallgau, der kleine Erholungsort zwischen Almen, Gipfeln und Seen, wird dabei zum Nadelöhr für den Durchgangsverkehr.

„Natürlich ist das in erster Linie einfach nervig“, sagt Katharina Zunterer. „Aber wenn wir nicht einmal die Straße überqueren können, wird das für uns zum ernsthaften Problem.“ Sie führt gemeinsam mit ihrem Vater das hübsche Gästehaus in einem alten Bauernhaus an der Bundesstraße 11, die sich quer durch den Ort zieht. Mit anderen Wallgauern hat sie jetzt das Bürgerbündnis „Verkehrsentlastung Wallgau“ ins Leben gerufen: Unter dem Motto „Ausbremst is“ demonstrieren an diesem Samstag mindestens 300 Einheimische gegen die Blechlawinen. Ab 11 Uhr spazieren sie eineinhalb Stunden durch das kleine Dorf. Die B 11 wird währenddessen komplett gesperrt sein. Pünktlich zum Ferienstart. Ausgerechnet zum Ferienstart.

Zunterer schlägt einen dicken Ordner auf. Sie nennt den Inhalt „die Schmerzpunkte der B 11“ – das sind zum Beispiel der Übergang zur Wallgauer Kita, das Gehupe an der Kreuzung, die Apotheke in einer unübersichtlichen Rechtskurve. „Natürlich stampfen wir nicht einfach so eine Demo aus dem Boden, weil wir unzufrieden sind“, sagt sie. „Wir haben erst nach Lösungen gesucht.“ Dann blättert sie durch Zeitungsartikel, in denen es darum geht, wie stark München noch in den nächsten Jahren wachsen wird. Durch Statistiken, wie lange der Bau eines Tunnels dauert. Durch E-Mails ans Rathaus, Landratsamt und ans Innenministerium. „Wenn man Anwohner ist“, sagt sie, „kann man fast nicht anders. Irgendwas müssen wir doch tun.“

Der dicke Ordner zeigt: Es gibt viele Ursachen für die verstopfte B 11. Den Ausflüglern will man jedenfalls nicht die Schuld geben. Immerhin ist die Gemeinde von ihnen abhängig – hier gibt es kaum Firmen oder Büros. Wallgau lebt seit Generationen zu großen Teilen vom Tourismus.

„Ich kann natürlich die Münchner verstehen: Wir sind ja so nah dran, dass sich ein Tagesausflug lohnt“, erzählt Bürgermeister Bastian Eiter im Rathaus. „Das Traurige daran ist leider nur, dass viele bis auf die Parkgebühren gar kein Geld dalassen.“ Und noch problematischer sei, dass viele Autofahrer nur schnell durch Wallgau durchfahren wollten. „Wir haben in den letzten fünf Jahren das Maximum überschritten“, sagt Eiter. „Oft drückt sich vor unserer Tür eine einzige Warteschlange im Schritttempo durch den Ort.“ Der 45-Jährige ist erst seit wenigen Monaten im Amt und gilt in der Gemeinde als junger, engagierter Bürgermeister.

Eine Lösung hat er aber nicht – Wallgau alleine könne nichts tun, da ist sich Eiter sicher. Zu viele Faktoren würden eine Rolle spielen, zu viele Regionen seien neben Wallgau ebenso stark betroffen. „Die vielen Baustellen in Garmisch-Partenkirchen sind zum Beispiel nur ein Aspekt vom Ganzen“, sagt er. „Wenn es sich da staut, schlagen die Navis plötzlich den Kesselberg vor und alle stehen hier.“ Auch das extreme Wachstum Münchens erdrücke die Gemeinde. „Natürlich kommen immer mehr Menschen her, wenn die Metropolregion jedes Jahr um Zehntausende wächst.“

Noch so eine Sache ist die Zugverbindung, die schlecht ausgebaut ist. „Man kann zwar von München mit dem Zug Richtung Garmisch-Partenkirchen fahren, allerdings gibt es nur ein Gleis. Hat ein Zug Verspätung, verschiebt das den ganzen Fahrplan.“ Ein 30-Minuten-Takt sei so gar nicht möglich. „Wir können das nicht alleine bewältigen“, sagt er. „Das kann nur die große Politik.“

Trotzdem findet er: „Jeder kann zumindest ein bisschen mithelfen.“ Rücksichtnahme ist hier das Stichwort. Immer wieder, erzählt der Bürgermeister, rasen Auto- und Motorradfahrer mit aufheulendem Motor durch den Ort. Und montags in der Früh sei der anliegende Walchensee eine einzige Müllhalde. Eiter holt tief Luft. „Wir sind nicht Legoland“, sagt er. „Wir wohnen hier.“

Erst kürzlich hat ein Wallgauer auf eigene Kosten ein Tempo-Messgerät am Ortseingang aufgestellt. „Wir haben letztens 140 Stundenkilometer gemessen“, sagt Demo-Organisatorin Zunterer. Sie selbst ist oft mit dem Fahrrad unterwegs – oft wird es brenzlig, wenn sie überholt wird, erzählt sie. Auch sie meint: „Vielen fehlt das Bewusstsein, dass hier Menschen leben. Die B 11 wird immer mehr zur Autobahn. Es sind ja nicht nur die Urlauber“, sagt sie. „Es sind auch Lkws, Motorräder und Flixbusse.“ Oft klingen die kleinen Glöckchen im Gasthaus Zunterer, wenn ein Laster vorbeibrettert.

Gut 20 Gasthäuser und Hotels liegen in Wallgau direkt an der B 11. Manche Hoteliers haben schon Angst, dass der Dauerstau die Stammgäste vergrault. „Die empfinden das mittlerweile nicht mehr als Erholung“, sagt zum Beispiel Bernhard Neuner, 51. Sein Hotel „Zur Post“ ist seit bald 400 Jahren in Familienbesitz. „Viele sagen ja, man sollte froh sein, wenn so viele Menschen herkommen“, sagt Neuner. „Aber von 3000 Autos, die hier vorbeifahren, bleiben vielleicht zehn bei uns hängen. Und dann wollen viele einfach nur schnell zur Toilette.“

Mittlerweile musste er das verbieten. „Wenn ich zurückdenke, als ich noch ein Bub war, das war überhaupt kein Vergleich.“ Früher hat man noch anders Urlaub gemacht, sagt er. „Da konnte man sich maximal ein bis zwei Urlaube im Jahr leisten. Und man hat die Zeit richtig genossen, hier gegessen, es sich in einem Ort gut gehen lassen.“ Heute nutze man jeden Brückentag, jedes lange Wochenende für einen schnellen Ausflug.

Auch seine Stammgäste werden am heutigen Samstag stundenlang im Stau stehen. Trotzdem stehen die Einheimischen hinter der Demo, auch der Bürgermeister. „Natürlich steigt man auch denen auf die Füße, die hier eine Woche Urlaub machen“, sagt Eiter. „Aber was sollen wir sonst machen?“ Nur so könne man die Menschen wachrütteln.

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