Vogels Vermächtnis

von Redaktion

VON WOLFGANG HAUSKRECHT

München – Für Liselotte Vogel ist es ein schwerer Gang. Als letzte Rednerin betritt sie mit stützender Hilfe die schlichte Bühne, geht vorbei am überlebensgroßen Foto ihres geliebten Mannes ans Pult, vor dem ein weißer Topf mit weißen Rosen und weißen Orchideen steht. Erst am Freitag musste sie am Bogenhausener Friedhof im engsten Familienkreis Abschied nehmen, bei der Trauerfeier im Gasteig am Montag verliest sie einen persönlichen Brief, den Hans-Jochen Vogel am Ende seines Wegs noch an seine Parteifreunde geschrieben hat.

„Zu meinem Bedauern bin ich gezwungen, meiner Partei und der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass mir die Entwicklung meiner gesundheitlichen Verhältnisse die Fortsetzung meiner politischen Arbeiten nicht mehr erlaubt. Ich lege deshalb alle meine politischen Ehrenämter nieder und beende ebenso meine allgemeinen politischen Tätigkeiten“, schreibt Vogel in der für ihn typischen korrekten Art. Er nennt als politische Vorbilder unter anderem die SPD-Legenden Willy Brandt, Helmut Schmidt und Herbert Wehner und schließt mit dem Satz: „Sorgen Sie dafür, dass Deutschland bleibt, wofür wir gekämpft haben.“

„Als mein Mann erfuhr, dass sein Leiden nicht heilbar ist und seine Tage gezählt sind, hat er mit großer Anstrengung seinem Sohn diese Erklärung diktiert“, sagt Liselotte Vogel tief bewegt. „Er wäre nicht er selber gewesen, hätte er ohne geordneten Abschied diese Welt verlassen.“

Ordnung. Das war etwas, was Hans-Jochen Vogel zeitlebens wichtig war. Nicht nur über Veränderungen reden, sondern sie umsetzen, zum Wohle der Allgemeinheit. Das war sein Credo, das ihn bis zuletzt antrieb.

Noch vergangenes Jahr hatte er ein „Büchlein“, wie er es nannte, veröffentlicht. 80 Seiten, auf denen er unter dem Titel „Mehr Gerechtigkeit!“ die explodierenden Bodenpreise anprangerte und eine Reform des Bodenrechts forderte. In einem Interview mit unserer Zeitung im November wurde Vogel regelrecht zornig, als er über das Thema sprach. „Für den wohnungsbaurelevanten Teil des Bodens sollen nicht mehr die Marktregeln gelten, sondern die Regeln des Allgemeinwohls.“ Sagte es und hämmerte mit der Faust auf den Tisch. Vogel, 93, der ewige Mahner und Kämpfer.

Es sind diese Eigenschaften, die alle Redner im Ga- steig hervorheben. Zu der Trauerfeier sind neben der Familie zahlreiche politische Größen gekommen, darunter Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit seiner Frau Elke Büdenbender, SPD-Altkanzler Gerhard Schröder, SPD-Chefin Saskia Esken, Vizekanzler und Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD), Theo Waigel (CSU), Alt-OB Christian Ude (SPD), Bayerns Innenminister Joachim Herrmann und Landtagspräsidentin Ilse Aigner (beide CSU).

Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) erinnert an Vogels wichtigste politische Stationen, darunter seine zwölf Jahre als Münchner Stadtoberhaupt von 1960 bis 1972. Vogel holte die Olympischen Spiele in die Landeshauptstadt, war politischer Vater von U- und S-Bahn, der Fußgängerzone und des Stadtentwicklungsplans, ehe er 1972 in die Bundespolitik wechselte.

Vor allem Vogels Einsatz für günstigen Wohnraum habe ihn beeindruckt, sagt Reiter. Vogel sei nicht müde geworden, die explodierenden Baulandpreise anzuprangern. „Ich sehe als Nachfolger dieses Thema als Vermächtnis an – und als Auftrag, dafür zu kämpfen.“ Reiter würdigt Vogel als Vorbild an Korrektheit und Geradlinigkeit. „Er stand für Anstand und Glaubwürdigkeit in allen politischen Ämtern.“ Vogel sei ein „visionärer und tatkräftiger“ Anwalt der Bürger gewesen. „Mehr Gerechtigkeit könnte über dem ganzen Leben von Hans-Jochen Vogel stehen.“

Der SPD-Bundesvorsitzende Norbert Walter-Borjans berichtet von intensiven Gesprächen mit Vogel, zuletzt an seinem 93. Geburtstag in der Münchner Seniorenresidenz Augustinum, wo Vogel mit seiner Frau lebte. „Hans-Jochen“ habe ihn und Saskia Esken, mit der er sich den SPD-Vorsitz teilt, zutiefst beeindruckt. „Als Ideengeber, Beurteiler und Mahner.“ Sein Leben habe ganz im Dienst der Menschen gestanden. „Für sie hat er gekämpft, gestritten, gearbeitet.“ Vogel sei ein Mann von „sagenhafter Gewissenhaftigkeit“ gewesen. Er habe anderen konzentriert zugehört – und deren Positionen konkret hinterfragt. Walter-Borjans nennt Vogel eine wichtige Stimme im Kampf gegen Rechtsextremismus. Er habe die neue Gefahr früher erkannt und thematisiert als viele andere.

Auch der SPD-Chef verweist auf Vogels Buch „Mehr Gerechtigkeit!“ Manche Passagen, sagt Walter-Borjans, seien so konkret und praktisch, dass sie als Vorlage im Bundeskabinett dienen könnten – und sollten. Aufopfernd sei Vogels Einsatz für die Partei gewesen. Nie habe er sich gedrückt. Das habe Vogel auch bittere Niederlagen eingebracht, zum Beispiel gegen Helmut Kohl bei der Kanzlerkandidatur Vogels 1983. Vogel habe aber nicht gehadert, sondern weitergearbeitet. „Er hat vorgelebt, was es heißt, Haltung zu haben.“

An Liselotte Vogel richtet der SPD-Chef direkte Worte. „Ohne Ihren klugen und warmherzigen Rat wäre sein Lebenswerk nicht denkbar gewesen“, sagt er. Und als letzte Worte an Vogel selbst: „Du hinterlässt uns nicht nur gute Erinnerungen, sondern einen Aufgabenzettel, der aktueller nicht sein kann.“

Gertraud Burkert (SPD), lange Zweite Bürgermeisterin in München, kannte Hans-Jochen Vogel gut. Mehr als drei Jahrzehnte unterhielt Vogel, selbst überzeugter Christ, Gesprächskreise mit Menschen aus Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kirche. Burkert nahm an manchem Gespräch teil. Meist habe Vogel das Thema vorgegeben. „Themen, die weit nach vorne reichten. Er war immer auf die Zukunft ausgerichtet.“ Mehr soziale Gerechtigkeit sei sein großes Thema gewesen, und der Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus. Zu seinem letzten Buch sagt Burkert: „Wir sollten es nicht einfach in den Bücherschrank stellen, sondern als Aufgabe begreifen.“

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