Regensburg – An einem kalten Wintertag gibt Maria Schober (Namen geändert) auf. Wochenlang war sie an einer Spur dran. Sie hatte so ein gutes Bauchgefühl, es gab sogar genetische Übereinstimmungen. Doch der Mann, der ein enger Verwandter sein könnte, lehnt einen DNA-Test ab. Er möchte nicht wissen, ob Schober zu seiner Familie gehört. „Zwingen kann ich ihn ja nicht“, sagt sie. Doch sie verliert an diesem Tag mehr als ihre heiße Spur. Sie verliert die Hoffnung, jemals zu erfahren, wie ihr Leben begonnen hat.
Schober ist weit über 70. Hinter ihr liegt ein langes Leben. Sie hat geheiratet, Kinder bekommen, wurde Großmutter. Es ist ein glückliches Leben – aber ein unvollständiges. Denn der Anfang fehlt. „Nichts ist schlimmer, als seine Wurzeln nicht zu kennen“, sagt sie. Sie weiß nicht, welchen Namen ihre Eltern ihr gegeben haben. Oder an welchem Tag sie zur Welt kam. Sie weiß nicht mal, warum sie am 15. Februar 1945 in dem Cottbuser Krankenhaus war. Vielleicht war sie verletzt, vielleicht waren ihre Eltern auf der Flucht und hatten sie dort abgelegt. All diese Fragen hat sie sich immer wieder gestellt – ohne eine Antwort zu bekommen.
Das Cottbuser Krankenhaus ist an diesem Februartag kurz vor Kriegsende bombardiert worden. Die Verwundeten wurden mit Zügen in andere Krankenhäuser transportiert. Erinnerungen an diesen Tag hat Maria Schober nicht, sie war viel zu klein. Aber sie hat am Hals und an der Handfläche Hautverfärbungen, die von Phosphorverbrennungen stammen. Und sie zuckt auch heute noch jedes Mals zusammen, wenn sie einen lauten Knall hört. Das sind die einzigen Puzzlestücke, die sie zum ersten Abschnitt ihres Lebens hat.
In Regensburg kommt sie 1945 in ein Kinderheim. Dort nennt man sie Maria und schätzt ihr Geburtsdatum auf den 1. Juli 1943. Niemand weiß, wer sie wirklich ist. Ein paar Monate später wird sie adoptiert, sie wächst in einem liebevollen Zuhause auf. Erst als sie 14 ist, erklären ihre Eltern ihr, dass sie adoptiert wurde. Plötzlich ist die Vergangenheit übermächtig – und lässt Maria Schober nicht mehr los. Es ist der Moment, in dem die Suche nach ihren Wurzeln beginnt.
Als junge Frau wendet sie sich an den Suchdienst des Roten Kreuzes. Aus Maria Schober wird „UK 2031 weiblich“. Das ist der Steckbrief unter dem sie in dem Verzeichnis läuft, in dem Menschen nach Vermissten suchen. Sie ist eine von tausenden Personen darin – doch im Gegensatz zu ihr haben die meisten anderen Anhaltspunkte. Sie weiß gar nichts, nicht einmal ihren Geburtsort. Es gibt ein geschätztes Geburtsdatum, einen Fundort, und ein Schwarz-Weiß-Bild, das sie als junge Frau zeigt. Doch das reicht nicht. Niemand findet sie.
Also versucht Schober in die Gegenwart zurückzukehren. Sie lebt ihr Leben, heiratet, bekommt Kinder. Immer wieder muss sie Umwege in Kauf nehmen, weil sie ihre Wurzeln nicht kennt. Ohne Geburtsurkunde kann sie nicht heiraten, ihr Vater muss erst beim Landratsamt vorsprechen. Die innerliche Zerrissenheit macht ihr aber mehr zu schaffen. Ständig fragt sie sich, wer ihre leiblichen Eltern sind. Ob sie sie weggegeben oder verloren haben. Einmal fährt sie sogar in das Cottbuser Krankenhaus. „Es gab keine Unterlagen mehr von damals“ erzählt sie. Jeder Versuch, die eigene Geschichte zu finden, scheitert. Dann erfährt sie durch einen Zufall von Ancestry, einer Online-Plattform für Ahnenforschung. Seit Kurzem bietet die auch in Deutschland DNA-Tests durch Speichelproben an. Maria Schober macht diesen Test – und findet kurz darauf einen dicken Umschlag im Briefkasten. Er ist gefüllt mit Anhaltspunkten zu genetischen Verwandten – Menschen, die ebenfalls ihre Chromosomen haben untersuchen lassen. Weltweit haben zehn Millionen Menschen den DNA-Test von Ancestry gemacht.
Maria Schober hat nun Namen. Entfernte Cousins und Cousinen zweiten Grades, alle leben in den USA. Alle muss sie einzeln anschreiben – und dafür ein Übersetzungsprogramm benutzen. Es ist mühsam und aufwühlend – aber sie ist ihren Wurzeln so nah wie nie. Doch die Antworten auf ihre Fragen findet sie nicht. Immer wieder gibt es Rückschläge. Sie sucht nach mehr Menschen mit diesen Nachnamen. Über Facebook und das Telefonbuch. Immer wieder landet sie in einer Sackgasse. Spuren, die sich richtig angefühlt hatten, erweisen sich als falsch.
Wie damals, vor vielen Jahren. Schober hatte so ein gutes Bauchgefühl, als sie in den Vermisstenlisten des Roten Kreuzes den Steckbrief von Erika Brieger entdeckte. Einem Mädchen, das im Raum Cottbus verloren gegangen war. „Das hätte alles gepasst“, erzählt sie. Alter, Fundort. Erika Brieger habe ihre Familie bereits gefunden, sagte man ihr, als sie sich erkundigte. Als Maria Schober an dem Wintertag vor ein paar Monaten wieder eine Spur verliert, weil ein potenzieller Verwandter den DNA-Test ablehnt, glaubt sie, keine Kraft mehr zu haben. Sie ist 76. Mit jedem Jahr wird es unwahrscheinlicher, noch lebende Verwandte zu finden, die sie gekannt haben. Doch dann kommt der Anruf von einer Ahnenforscherin, die Schober mit Hilfe von Ancestry beauftragt hatte, mit ihrem Testergebnis weiterzuforschen. Sie hat einen Verwandten ersten Grades gefunden. Ersten Grades bedeutet: dieselben Eltern. Ein Bruder oder eine Schwester. Maria Schober bittet die Frau, ihre Nummer weiterzugeben – und geht mit Herzklopfen ins Bett.
Am nächsten Tag klingelt das Telefon. Den ersten Satz wird sie nie vergessen: „Schwesterle, grüß dich Gott!“ Der Mann am Telefon ist ihr Bruder Gerhard. Sie telefonieren eine halbe Stunde. „Ich habe viel geweint“, sagt Schober. Es sind Freudentränen. Bayern ist wegen Corona gerade in einem Ausnahmezustand. Einen Tag vor dem Lockdown setzt sich Maria Schober ins Auto und fährt nach Baden-Württemberg zu ihrem Bruder. „Ich habe mein ganzes Leben lang nach meiner Familie gesucht“, sagt sie. Auch eine Pandemie kann sie jetzt nicht mehr aufhalten. Erst als sie vor dem Haus halten, kommt die Angst. „Ich habe mich nicht aus dem Auto getraut“, erzählt sie. Dann kommt Gerhard aus dem Haus, öffnet die Autotür und sagt: „Schwesterle, steig aus, damit ich dich in die Arme nehmen kann.“
Ihr Bruder Gerhard heißt mit Nachnamen Brieger. Und seine vermisste Schwester Erika ist nicht die Frau, die vor vielen Jahren mit der Familie zusammengeführt wurde. Maria Schober ist Erika Brieger. Es war ein unfassbares Missverständnis. Damals ist noch vor allem mit Gesichtserkennung gearbeitet worden, es gab keine Plattformen wie Ancestry und keine DNA-Tests. Die Eltern und die beiden größeren Geschwister hatten Erika Brieger nur als Baby gekannt. Nur Gerhard, der seine Schwester nie gesehen hatte, glaubte damals nicht, dass er wirklich vor seiner Schwester steht. Ein Bauchgefühl, anders kann er es nicht erklären. Die Eltern und die Geschwister haben vor diesem Irrtum nicht mehr erfahren. Auch die falsche Erika Brieger lebt nicht mehr. Aber Gerhard Brieger kann Maria Schober nun endlich die Puzzleteile liefern, die ihr immer gefehlt haben.
„Meine Familie war 1945 auf der Flucht“, erzählt sie. Sie kam als Baby mit einer Infektion ins Krankenhaus. Als die Bomben fielen, wurden alle Patienten in Züge gesetzt. Die Familie hat nie herausgefunden, wo ihre Tochter gelandet ist. „Mein Bruder sagte mir, dass mein Vater sein ganzes Leben lang nach mir gesucht hat.“ Ihr kommen jedes Mal die Tränen, wenn sie das erzählt. Erst als eine falsche Frau vermittelt wurde, hat er die Suche beendet.
Maria Schober hat ihren 77. Geburtstag in diesem Jahr zweimal gefeiert. Am 1. Juli – und am 20. Das ist ihr wahrer Geburtstag. Ihr Bruder Gerhard kam. Er schenkte ihr eine gute Flasche Wein und einen Rosenstock. „Der bekommt einen Ehrenplatz“, sagt Schober. Am meisten gefreut hat sie sich aber über seine Geburtstagskarte. „Meine liebe Schwester Erika Maria“ schrieb er. Sie hat nun zwei Vornamen – so wie sie auch zwei Leben hatte. Nach 77 Jahren sind sie endlich miteinander verschmolzen.