Der Mühldorfer Bomben-Wald wird entschärft

von Redaktion

VON WOLFGANG HASERER

Mühldorf – Die Sonde knarzt. Mitten im Wald. Mal lauter, mal leiser. Je nachdem, in welche Richtung der Detektor gerade zeigt. Die Szene erinnert an die Fernsehbilder nach der Tschernobyl-Katastrophe, als die Pilzsammler mit Geigerzählern unterwegs waren. Doch Sonden-Mann Eric Gräfe sucht zwischen Bäumen und Gestrüpp im Mühldorfer Hart keine verstrahlten Schwammerl. Er sucht Bomben und Granaten.

Schritt für Schritt geht der 31-Jährige das Gelände ab und lässt das Magnetometer so lange von links nach rechts wandern, bis es an einer Stelle ordentlich Alarm macht. „Graben“, sagt Gräfe und nickt seinem Kollegen Thomas Manske zu.

Ein dunkles Kapitel

Schon beim dritten Stich trifft der Spaten auf Metall. Manske stellt die Schaufel weg, der Rest ist Handarbeit. Der 59-Jährige legt ein Stück Eisen frei: einen halben Meter lang, fünf Kilo schwer und nicht explosiv. „Eisenbahnschiene“, sagt Manske knapp. „Vielleicht was fürs Museum, aber nix für uns.“

Im Museum in Mühldorf gibt es zu diesem Ort im Wald eine Dauerausstellung. Sie beleuchtet ein dunkles Kapitel NS-Geschichte. KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter schufteten während des Zweiten Weltkriegs im Hart im Landkreis Mühldorf am Inn, stampften unter unmenschlichen Bedingungen einen Rüstungsbunker für die Produktion von Kampfflugzeugen aus dem Boden. Tausende starben in den Lagern.

Der Bau einer Gedenkstätte scheiterte unter anderem an der Frage, wie viele Kampfmittel an der ehemaligen Baustelle im Boden liegen. Heute weiß man: Es sind viele, sehr viele. Manske, Gräfe und die knapp 40 Kollegen der Gesellschaft für Kampfmittelbeseitigung (GFKB) haben seit Mai vergangenen Jahres schon 76 000 Geschosse und Munitionsteile aus dem Boden geholt.

Vor 70 Jahren wollte man das Zeug genau da haben: im Boden. Gesprengt, verschüttet und vergessen. Unmittelbar nach Kriegsende hatten die US-Truppen begonnen, Wehrmachtsmunition zu sammeln und zu vernichten. Die verlassene Bunkerbaustelle nutzten sie kurzerhand als Sprengplatz.

Ab Mitte 1946 war dann die Staatliche Erfassungsstelle für Öffentliches Gut (StEG) für die Entsorgung der Kampfmittel zuständig. Die Geschosse wurden zunächst an 20 Entschärfungsstellen in Bayern entzündert. In sogenannten Delaborierungswerken holte man anschließend den Sprengstoff aus den Bomben- und Granatenhüllen. Eines dieser Werke befand sich im nahe gelegenen Aschau am Inn. Als es Ende 1947 die Arbeit einstellen musste, lagerten dort noch 2600 Tonnen Munition. Für eine saubere Entsorgung war keine Zeit. Einziger Ausweg: der Sprengplatz im Mühldorfer Hart.

Nicht alles detonierte

„Man darf sich das nicht falsch vorstellen“, sagt Geologe Alexander Schwendner, der sich für das Ingenieurbüro IBH seit mehr als zwei Jahrzehnten mit der Rüstungsgeschichte in Bayern beschäftigt. „Da wurde nicht einfach alles auf einen Haufen gestapelt und in die Luft gejagt. Das waren bestens ausgebildete Feuerwerker, die einen guten Job gemacht haben.“ Wegen der großen Mengen seien Massensprengungen nötig gewesen. Über Monate. „So gut man auch schlichtet, ein gewisser Prozentsatz detoniert einfach nicht“, sagt Schwendner. Die Munition wurde entweder mehrere Meter tief in die Trichter gedrückt oder flog in hohem Bogen durch die Luft.

Und so zieht Thomas Manske im Wald, 400 Meter von der Bunkerruine entfernt, nicht nur Eisenbahnschienen aus dem Boden. Sondern auch mit Sprengstoff gefüllte Granaten. Alltag für Räumstellenleiter Burghard Jaeger: „Von der 13 Millimeter-Patrone bis zur 200-Kilo-Granate liegt in einem Umkreis von 500 Metern das ganze Sortiment. Schwerpunkt sind die 7,5-Zentimeter-Sprenggranaten, das waren bisher 1200 Stück.“

Auf über 45 Hektar haben Sondierer und Räumarbeiter inzwischen jeden Stein umgedreht. Die über 100 Trichter wurden mit Spezialbaggern geräumt, das Erdreich gesiebt. Ein Riesenaufwand, der den Freistaat rund fünf Millionen Euro kosten wird.

Selbst die Experten waren erstaunt, wie nah an der Oberfläche die Munition zu finden ist. „Meistens muss ich mit dem Spaten kein drittes Mal stechen“, sagt Thomas Manske. Der Großteil der Geschosse liege nur ein paar Zentimeter tief. Angst, dass der Spaten nicht doch einmal auf eine scharfe Granate trifft? Der Thüringer schüttelt den Kopf: „Nein, Angst nicht. Respekt schon. Ich mache das ja erst seit ein paar Monaten. Aber hier sind genügend Leute mit genügend Erfahrung.“ Und doch ist es fast ein Wunder, dass über all die Jahrzehnte im Mühldorfer Hart niemand zu Schaden gekommen ist: kein Pilzsammler, kein Forstarbeiter, kein Hobby-Sondierer.

Gefahr für die Umwelt

Die Granaten und Munitionsteile werden in Kisten verpackt und von einem Recyclingunternehmen im niedersächsischen Munster vernichtet. Was nicht transportfähig ist, wird vor Ort gesprengt. Anfang Juni hat Feuerwerker Jaeger mehrere Granaten kontrolliert explodieren lassen, die noch einen Zünder hatten. „Sicherheit ist oberstes Gebot“, sagt der 59-Jährige. „Lieber einmal zu oft gesprengt als einmal zu wenig.“

Die Kampfmittel sind auch eine Gefahr für die Umwelt. „Ehemalige Sprengplätze bluten bis zu 500 Jahre aus“, sagt Alexander Schwendner. „In diesem Fall mit TNT und Hexogen.“ Bei den Detonationen landeten neben den großen Geschosshüllen auch kleine Sprengstoffbrocken im Boden. „Wegen der teilweise sehr hohen Schadstoffbelastungen in den Sprengtrichtern ist eine Gefährdung des Grundwassers nicht auszuschließen“, bestätigt Michael Holzmann vom zuständigen Wasserwirtschaftsamt Rosenheim. Bisher sei aber lediglich in einer Grundwasser-Probe ein TNT-Abbauprodukt festgestellt worden. Eine Gefahr für das Trinkwasser schließt das Amt bisher aus.

Um die sprengstoff- und pulvertypischen Verbindungen aus dem Boden zu bekommen, müsste man das kontaminierte Erdreich deponieren oder verbrennen. Die Kosten wären immens. Deshalb hat Schwendner ein biologisches Verfahren entwickelt. „Die ausgebaggerten Sprenggruben werden lagenweise mit Kompost und belastetem Aushub verfüllt.“ Der Geologe plant langfristig: „In einigen hundert Jahren werden die Schadstoffe komplett aus dem Boden ausgewaschen oder entgiftet sein.“

Für Eric Gräfe, Thomas Manske und die anderen Räumarbeiter ist Schicht im Wald, wenn die Eisensonden nicht mehr knarzen. In spätestens einem Jahr soll die letzte Granate aufgespürt sein. Dann soll der Kompost den Rest erledigen. In aller Ruhe, ohne Wumms.

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