München – Damals, im Oktober 2019, war Hansi Flick noch einer aus der zweiten Reihe. Aber diese eine Aufnahme, geschossen am Rande der 1:2-Niederlage des FC Bayern gegen die TSG Hoffenheim, war trotzdem mehr als eine Randnotiz. Zwei Männer auf der Ersatzbank der Allianz Arena. Der eine: am Boden zerstört. Der andere: als Tröster gefragt.
Flick saß da und nahm Javi Martinez in den Arm, also jenen einstigen Leistungsträger, der von seinem damaligen Chefcoach Niko Kovac mal wieder nicht eingewechselt worden war. Er drückte ihn, hörte zu, und versuchte später trotzdem, der Szene die Brisanz zu nehmen. Vollkommen überinterpretiert sei all das gewesen, sagte er. Sei’s drum! Man sah, was man sehen musste.
Martinez brauchte Flick. Und Flick war da.
Per Mertesacker kann sich genau vorstellen, was in diesen Momenten im sich leerenden Heimspielstadion vor sich ging. Denn der ehemalige Nationalspieler, heute 35, hat den Menschenfänger Flick selbst erlebt. Ganze acht Jahre lang war der Mann, der sich an diesem Wochenende anschickt, mit dem FC Bayern das zweite Triple der Vereinsgeschichte zu gewinnen, als Co-Trainer von Nationalcoach Joachim Löw tätig. Er begleitete Mertesackers Weg vom Jungspund zum Weltmeister, und auch einen seiner bittersten Momente.
Bei der WM 2014 in Brasilien, als Löw und sein Team sich vor dem Viertelfinale gegen Frankreich zum Umbau und der Herausnahme von Dauerbrenner Mertesacker entschlossen hatten, musste Flick ran. Der Chef überbrachte dem irritierten Verteidiger die nackte Nachricht, bevor er seinen Assistenten bat, die überaus heikle Aufgabe der Erklärung zu übernehmen. Flick sprach, Mertesacker schluckte, aber böses Blut gab es nicht. Ein paar Tage später feierte die DFB-Elf den WM-Titel, als Teamerfolg.
Bescheiden, menschlich, überaus sozial sei er, sagen Spieler über den langjährigen Co-Trainer. Als „Kommunikator“ bezeichnet er sich selber. Mertesacker und Flick hatten zuletzt 2014 unmittelbar etwas miteinander zu tun, also bevor Flick über den Umweg als DFB-Sportdirektor und Geschäftsführer in Hoffenheim im Sommer 2019 beim FC Bayern landete.
Diese, seine besondere Gabe aber hat der gebürtige Heidelberger nicht verloren. Erst im Laufe der Woche, also während der FC Bayern beim Finalturnier der Champions League in Lissabon über die Stationen FC Barcelona (8:2) und Olympique Lyon (3:0) ins Endspiel am Sonntag (21 Uhr, ZDF) gegen Paris Saint-Germain stürmte, sagte Jerome Boateng: „Wie er die Mannschaft behandelt, da kann sich keiner beschweren.“
Würde auch nie jemand machen. Keiner der Stars, die er noch besser machte. Keiner der jungen Wilden, die er fördert. Keiner der Ersatzspieler, die sich für ihn aufopfern – wie etwa Philippe Coutinho, der gegen Barcelona mit zwei Toren dankte. Flick, ein akribischer Arbeiter, erreicht sie alle, und er tut das auf Augenhöhe. Der 55-Jährige beschäftigt sich an der Säbener Straße seit der Amtsübernahme im November mit jedem Einzelnen, geht auf seine Spieler ein, führt Gespräche, die weit übers Berufliche hinausgehen.
Als persönliche Treffen abseits des Rasens während der Corona-Unterbrechung der Bundesliga nicht möglich waren, litt er wie ein Hund. Nicht selten sah man Flick nach dem Ende einer Einheit auf dem Platz lange mit einzelnen Profis sprechen. Die Hygienevorschriften wurden eingehalten, das Training aber halt etwas ausgedehnt – und zweckentfremdet.
Wobei Flick den Zweck seines Berufes ein wenig anders interpretiert als andere Trainer. Für ihn selbst ist sein Vor-Vor-Vor-Vorgänger in München, Pep Guardiola, der beste seiner Zunft; fachlich mag das stimmen, menschlich aber hat er andere Vorbilder.
Der Kontakt nach Schwalmtal, wo Jupp Heynckes seinen Ruhestand genießt, besteht regelmäßig, auch dieser Tage des großen Saison-Finals. Der Triple-Trainer von 2013 weiß genau, wie Flick sich jetzt fühlt, schon vor dem Achtelfinal-Rückspiel gegen den FC Chelsea war er ja „nervöser als sonst“. Man darf nicht vergessen: Er spielt seine erste Champions-League-Saison.
Die beiden haben nicht nur eine ähnliche Art, sondern auch einen ähnlichen Riecher. Heynckes zum Beispiel hat „schon mal Spielern auf den Kopf zu gesagt: Irgendwas stimmt nicht mit dir. Kann ich helfen?“ Seine Gegenüber waren dann meist perplex, gerne kam aber ein paar Tage später die Bestätigung: „Coach, du hast Recht, meine Frau ist ausgezogen.“ Heynckes hörte sich die ganze Geschichte an, fragte immer wieder nach. „Das Menschliche“, sagt der 75-Jährige, „ist ja in unserer Gesellschaft generell ein Problem.“ Allen – mehr als 1000 Mitarbeitern – mit Respekt zu begegnen, das hat er versucht. Flick tut es nun auch.
Seinen Spielern ist er Trainer und Partner zugleich. Er schafft Vertrauen, ohne dabei an Autorität einzubüßen. Vor ein paar Wochen, die Bayern waren gerade irgendwo inmitten ihrer inzwischen 29 Spiele währenden Serie ohne Niederlage, ließ er eine Trainingseinheit kurzerhand abbrechen. „Aus dem Bauch heraus“ sei das geschehen, sagt er. Der Einsatz war mangelhaft, so brachte das alles nichts. Alle in die Kabine!
Was man nun in Lissabon sieht, ist beeindruckend. Jeder will, jeder ackert. Fitte Stars haben schon andere Trainer gehabt, einen Teamgeist wie Flick die wenigsten. Beim FC Bayern sagt man, alles sei wie 2013, also bereitet für den großen Coup. Da hat man jahrelang große Namen gejagt – dabei lag das Gute so nah. „Heilfroh“ sei man über den Trainer, sagte Karl-Heinz Rummenigge diese Woche. Der Vorstandsboss hofft, dass Flick „noch ganz, ganz lange bleiben wird“.
Für Rummenigge sind Worte wie diese eine Gefühlsexplosion. Sie bleiben stehen, egal, wie das Finale ausgeht. Auch Heynckes hat 2012 ja verloren – und ist seit 2013 der Maßstab in diesem Club.