München – Nowitschok ist ein tückisches Gift, ein chemischer Kampfstoff, der in Zeiten des Kalten Krieges von sowjetischen Forschern entwickelt wurde – im Geheimen, um internationale Verbote zu umgehen. Nowitschok dringt über Haut und Atemwege in den Körper ein, führt meist binnen Stunden zum Erstickungstod – und ist schwer nachweisbar. Der frühere russische Doppel-Agent Sergej Skripal wurde 2018 damit vergiftet und 2017 der Halbbruder des nordkoreanischen Machthabers Kim Jong Un. Skripal überlebte, der Halbbruder nicht.
Russland weist Beteiligung zurück
Auch Alexej Nawalny lebt noch. Er liegt in der Berliner Charité im Koma. Spezialisten der Bundeswehr haben in seinem Körper nun ebenfalls Nowitschok nachgewiesen. Die Bundesregierung geht von einem „versuchten Giftmord“ aus und sieht die Täter im Dunstkreis des Kreml.
Aber wer gab den Auftrag? War es Präsident Wladimir Putin? Oder haben Kräfte aus seinem Umfeld den Anschlag eigenmächtig durchführen lassen? Der FDP-Vizevorsitzende Wolfgang Kubicki hält das durchaus für denkbar. „Es gibt Kräfte in der russischen Administration, die teilweise ein Eigenleben führen“, sagte Kubicki.
Die russische Staatsführung weist bisher jede Verwicklung in den Fall zurück. „Es gibt keinen Grund, dem russischen Staat etwas vorzuwerfen“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow gestern der Agentur Tass. Deshalb sehe er auch keinen Anlass für irgendwelche Sanktionen gegen Russland. Der Fall bringe niemandem Vorteile, wenn man „ganz nüchtern auf das Geschehene blickt“. Es gebe keinen Anlass für eine Erklärung Putins, Gespräche mit Bundeskanzlerin Angela Merkel dazu seien nicht geplant.
Es sieht nicht nach schnellen Antworten aus dem Kreml aus – was die Debatte darüber, wie der Westen, insbesondere die Europäische Union, reagieren sollte, nicht erleichtert. Die Vorschläge reichen von Abwarten bis zur Aufgabe des Gas-Pipeline-Projekts Nord Stream 2 (Seite 2).
Russland spielt derweil auf Zeit. „Wir rufen unsere Partner auf, jedwede Politisierung dieses Vorfalls zu vermeiden und sich ausschließlich auf glaubwürdige Fakten zu stützen, die hoffentlich schnellstmöglich geliefert werden“, erklärte die russische Botschaft in Berlin.
Mehrere deutsche Politiker hatten sich zuvor für schnelle Sanktionen gegen Russland ausgesprochen. Der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour zum Beispiel forderte, russischen Oligarchen Immobiliengeschäfte in Deutschland zu verbieten.
Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sagte, die Führung in Moskau stelle sich „auf die gleiche Stufe mit denen, die etwa in Syrien in der Vergangenheit mit chemischen Kampfstoffen gegen die eigene Zivilbevölkerung vorgegangen sind“. Nötig sei eine „klare gemeinsame Haltung“ der EU bei der Forderung nach Aufklärung.
Debatte um Pipeline Nord Stream 2
CDU-Außenexperte Norbert Röttgen sagte, alles müsse auf den Prüfstand. Wenn es jetzt zur Vollendung des Gasprojektes Nord Stream 2 käme, wäre das die maximale Bestätigung und Ermunterung für Putin, mit genau dieser Politik fortzufahren. Man müsse über die Nichtvollendung der Pipeline sprechen.
FDP-Fraktionsvize Alexander Graf Lambsdorff sprach sich für ein Moratorium für die Pipeline aus. „Die Bundeskanzlerin hat von Anfang an gewusst, dass Nord Stream 2 ein geopolitisches Projekt ist, keine privatwirtschaftliche Unternehmung“, sagte er gestern der „Welt“. „Der Bau kann unter diesen Umständen nicht weitergehen.“
Für die Bundesregierung wäre ein Vorgehen gegen Nord Stream 2 heikel. Denn sie hatte immer betont, dass es sich um ein privatwirtschaftliches Projekt handele, das nicht mit anderen Fragen verknüpft werden dürfe. Erst am Dienstag wies die Kanzlerin erneut darauf hin.
Problematisch wäre auch, dass Berlin mit einem Baustopp indirekt Donald Trump nachgeben würde, der allen an Nord Stream 2 beteiligten Firmen mit Strafmaßnahmen droht. Die Bundesregierung hat das als völkerrechtswidrige „exterritoriale Sanktionen“ scharf verurteilt.
Entsprechend vorsichtig äußerten sich gestern viele Politiker. Wer den Verzicht auf Nord Stream 2 fordere, übersehe, dass die Pipeline auch im deutschen Interesse liege, sagte Mecklenburg-Vorpommers Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD).
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sagte, es werde zwar schwieriger, das Projekt „in einem positiven Licht“ zu begleiten. „Aber jetzt muss man erst den ersten Schritt gehen und diese diplomatischen, politischen Fragen klären.“ Man dürfe nicht „von vorneherein die Tür zuschlagen“, wenn es um die Interessen vieler Familien und deren Beschäftigung gehe. Auch der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft warnte vor Sanktionen, die „an der Sache völlig unbeteiligte Unternehmen treffen würden“.
EU droht Putin offen mit Sanktionen
Die EU droht Russland offen mit Sanktionen. In einer am Donnerstagabend veröffentlichten Erklärung heißt es, die Europäische Union rufe zu einer gemeinsamen internationalen Reaktion auf und behalte sich das Recht vor, geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Dazu gehörten auch Sanktionen. „Die russische Regierung muss alles dafür tun, um dieses Verbrechen gründlich in aller Transparenz aufzuklären und um die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen“, heißt es in der vom EU-Außenbeauftragten Josep Borrell im Namen der Mitgliedstaaten veröffentlichten Erklärung. „Straffreiheit darf und wird nicht akzeptiert werden.“ Der Einsatz chemischer Waffen sei unter keinen Umständen akzeptabel und stelle einen schweren Verstoß gegen das Völkerrecht und internationale Menschenrechtsnormen dar. „Die Europäische Union verurteilt den Mordversuch gegen Alexej Nawalny auf das Schärfste“, heißt es. In der Vergangenheit hatte die EU in ähnlichen Fällen auf scharfe Sanktionen verzichtet.
Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko, der wegen der Proteste im eigenen Land auf die Hilfe Russlands hofft, sprang Putin gestern mit einer ganz eigenen Version zur Seite. Er habe Beweise dafür, dass der Giftanschlag vom Westen vorgetäuscht worden sei, um ein Eingreifen Russlands in Belarus zu verhindern.