München – Georg Höchtl sitzt mit seiner Familie auf der Terrasse, auf der Koppel in seinem Rücken bläst der Wind den Pferden durch die Mähne. Der Eckhof in Kleinberghofen (Kreis Dachau) ist sein Lebenswerk. Er hat ihn vom kleinen Zehn-Hektar-Hof, den er neben seiner Arbeit als Außendienstler führte, über die Jahrzehnte zur Reitanlage ausgebaut. Mit 50 Jahren beschloss er, die Landwirtschaft zum Hauptberuf zu machen. Heute leben auf dem Eckhof 110 Pferde. Irgendwann begann Georg Höchtl sich die Frage zu stellen, wie er sein Lebenswerk in die Zukunft führen will. Übergeben, loslassen, ohne böses Blut unter den Kindern zu schaffen – und gleichzeitig sein Vermächtnis zu bewahren. Keine leichte Aufgabe. Es dauerte Jahre, bis die Familie eine Lösung gefunden hatte, bei der allen der gemeinsame Kaffee auf der Terrasse immer noch schmeckt.
Einen großen Anteil daran hatte Isidor Schelle, ein Mann mit ruhiger Stimme und durchdringendem Blick. Der Rechtsreferent und Mediator beim Bayerischen Bauernverband hat in drei Jahrzehnten rund 2000 Hofübergaben begleitet. Er hat Paragrafen und Bilanzen gewälzt, unzählige Verträge aufgesetzt – und ist zwangsläufig tief in die Konflikte vieler Bauernfamilien eingetaucht.
Denn die Hofübergabe ist mehr als nur die Unterschrift unter ein paar offizielle Dokumente. Es ist für alle Beteiligten der Beginn eines neuen Lebensabschnitts, verbunden mit vielen Fragen. Wer bekommt was? Bin ich auch im Alter versorgt? Haben es die Jungen im Kreuz, den Betrieb zu führen? Verkraften die Alten den Schritt in die zweite Reihe? Und was fängt man eigentlich mit seinem Leben an, wenn von heute auf morgen nicht mehr der tägliche Gang in den Stall den Tagesablauf diktiert?
Schelle sagt: „Die Hofübergabe ist eine groteske Situation: Es gibt ja eigentlich nichts Schöneres, als einen Nachfolger für sein Familienunternehmen zu haben. Aber gleichzeitig wird man als Chef überflüssig.“ Ein Zwiespalt, in dem sich mancher schon verloren hat.
Um den Familien bei diesem schwierigen Schritt zu helfen, fährt Schelle, selbst gelernter Landwirt, quer durch Bayern. Er ist der Mann für die komplexen Fälle. Besonders wenn es zwischenmenschlich knirscht und rumpelt, findet die Beratung immer am Hof statt. „Man muss die Leute vor Ort abholen“, sagt Schelle. Sogar in welchem Zimmer die Aussprache stattfindet, kann entscheidend sein. Eine Bäuerin bestand auf der Küche für die Verhandlungen – ihr Mann aufs Wohnzimmer. „Nur in seinem Reich war er bereit, auszupacken“, sagt Schelle.
Die Hofübergabe ist für Bayerns Bauern die große Zukunftsfrage. Wie viele Betriebe fallen dem Strukturwandel zum Opfer? Laut aktuellem Agrarbericht haben zuletzt jährlich 0,7 Prozent der Betriebe aufgegeben. Die Entwicklung des Höfesterbens scheint zumindest gebremst. Aber Schelle befürchtet, dass langfristig auch im kleinstrukturierten Bayern etwa 20 Prozent aller Bauernhöfe auslaufen werden.
Wenn der Hof weitergegeben wird, dann in fast 90 Prozent aller Fälle innerhalb der Familie. Immer öfter setzen die Nachkommen dabei auf einen anderen Hauptberuf – und führen den Hof nur noch im Nebenerwerb. Einen weiteren Trend beobachtet Schelle: „Immer mehr Frauen übernehmen einen Hof.“ Zuletzt habe die Quote etwa bei 25 Prozent gelegen. Aber egal, wie die Konstellation ist – eine gute Übergabe braucht Zeit. „Mann muss damit schwanger gehen“, sagt Schelle immer wieder. Die Familien, die er begleitet, brauchen bis zu fünf Jahre, bis alles geregelt ist.
Ein Kernproblem bei der Hofübergabe: Das Geld aus der landwirtschaftlichen Alterskasse reicht oft nicht aus, um die Hofübergeber zu versorgen. Gewinne investieren Landwirte häufig in den eigenen Betrieb. Der Hof ist das wichtigste Kapital. Deshalb muss bei der Hofübergabe oft über einen sogenannten Austrag verhandelt werden – einen monatlichen Betrag, den der Hofnachfolger an seinen Vorgänger überweist. Die Frage ist: Wie viel brauchen die Alten, um angemessen über die Runden zu kommen? Und wie viel können die Jungen abtreten, ohne dem Betrieb das Wasser abzugraben? Da muss der Taschenrechner ausgepackt und jeder Cent umgedreht werden. Dieser ungeschönte Blick auf die eigenen Finanzen kann mitunter schmerzhaft sein.
Zudem stellt sich die Frage: Was bleibt für die Kinder, die den Hof nicht übernehmen? „Früher wurden die weichenden Erben oft mit einem Butterbrot abgespeist“, sagt Schelle. Das sei heute zum Glück anders. „Es ist wichtig, dass sich alle gemeinsam an einen Tisch setzen.“ Denn eines hat Schelle in den tausenden Gesprächen gelernt: „Am wichtigsten ist, dass jeder weiß, was der andere überhaupt will.“ Da hilft nur: reden, reden, reden.
Georg Höchtl hat lange gegrübelt, wie er es allen recht machen kann. Seinen leiblichen Kindern, aber auch Andreas Höchtl, dem Sohn seiner zweiten Frau Regina, den er mittlerweile adoptiert hat – und der sich mit der Übernahme des Hofes einen Traum erfüllt hat. Aber der Weg dahin war kein leichter. „Es gab eine Zeit, da habe ich keinen Weg gesehen, wie ich das gerecht regeln soll“, sagt Georg Höchtl. Doch wird nichts geregelt, fällt der Hof in eine Erbengemeinschaft – und droht zu zerstückeln, nicht mehr wirtschaftlich zu sein, zu einer weiteren, kleinen roten Zahl im Agrarbericht zu werden. Höchtl sah sein über Jahre mit viel Herzblut aufgebautes Lebenswerk in Gefahr. „Also haben wir Hilfe bei Herrn Schelle gesucht.“ Heute weiß Höchtl: Gerechtigkeit heißt nicht unbedingt, dass jeder auf den Cent denselben Betrag bekommt. Aber jeder hat Wünsche und Erwartungen an die Zukunft. Und die gilt es auch auszusprechen.
Wie wichtig das ist, zeigt ein Fall aus dem Allgäu, den Schelle begleitet hat. Die Übergabe zwischen Vater und Sohn war eigentlich geregelt, doch plötzlich weigerte sich die Mutter, den Übergabevertrag zu unterschreiben. „In vielen Gesprächen ist dann herausgekommen, dass sie seit 30 Jahren unter den Schwiegereltern gelitten hat. Und jetzt hatte sie die Sorge, dass sie auch noch den Rest ihres Lebens als Magd auf dem Hof verbringen würde.“ Eine Sorge, die weder ihr Sohn noch ihr Mann wahrgenommen hatten. Die Lösung: Mit 63 Jahren trat die Mutter einen Minijob in einer Bäckerei an. Ihr ganz persönliches Stück Freiheit nach so vielen Jahren.
Welche Rolle die Alten nach der Übergabe noch spielen, ist häufig noch wichtiger als die Geldfrage. Das hat Isidor Schelle in der eigenen Familie erfahren. Sein Vater etwa hat nach der Betriebsübergabe das Reisen für sich entdeckt. „Mit 86 Jahren hat er von der schönsten Zeit seines Lebens gesprochen“, sagt Schelle.
Georg Höchtl steht auch mit 70 Jahren noch jeden Tag im Pferdestall. Weil er will, nicht weil er muss. „Heute bin ich heilfroh, dass ich die Verantwortung abgegeben habe.“ Die Übergabe sei eine große Befreiung gewesen. Auch sein Sohn und Nachfolger Andreas ist zufrieden. „Weil wir uns in der Familie alle noch in die Augen sehen können. Das war für mich das Wichtigste.“ Das Lebenswerk ist gesichert. „Wir Landwirte denken eben in Generationen“, sagt er. Er denkt bereits daran, wie er mit seiner Frau Daniela den Hof in die Zukunft führen kann – für ihre zweijährige Tochter Verena. Für ihr Vermächtnis.