München – Es ist ein sonniges Frühlings-Wochenende, an dem Bayern langsam das Ausmaß der Krise erahnt. Auf den ersten Blick wirkt alles normal, gewöhnlich, fröhlich sogar. Die Cafés sind voll, keine Abstandsregel, warum auch. Die Bars, Kneipen und Biergärten haben Mitte März das erste Mal fast Vollbetrieb. Und doch stimmt etwas nicht: Man spürt es in den Supermärkten, erste Hamsterkäufe setzen ein. Auf einmal werden Toastbrot, NudOeln und Klopapier knapp.
In der Staatskanzlei treffen sich am Sonntagnachmittag Politiker und Beamte zu einem Krisentreffen, angeführt vom Ministerpräsidenten, und fasst Beschlüsse, das öffentliche Leben drastisch herunterzufahren. Am Ende wird Markus Söder den Katastrophenfall für Bayern einleiten. „Es ist eine echt schwere Bewährungsprobe“, sagt Söder an jenem 15. März.
Ein halbes Jahr ist das her, ungefähr. Wer die Dramatik jener Wochen nachzeichnen will, muss sogar einige Tage früher anfangen.
Montag, 27. Januar: Der erste positive Test in Bayern. Ein Webasto-Mitarbeiter (33) hat sich bei einer chinesischen Kollegin angesteckt.
Donnerstag, 30. Januar: Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) ruft Bayerns Kliniken auf, sich auf eine größere Zahl Corona-Patienten vorzubereiten. Den ersten Patienten, im Klinikum Schwabing isoliert, geht es derweil bestens. „Die vier sind bumperlgsund. Denen ist so langweilig, dass sie uns ständig mit der Entlassfrage nerven“, sagt ein behandelnder Arzt unserer Zeitung.
Freitag, 21. Februar: Die Faschingsferien beginnen. Skisaison – die Reisen werden sich noch als fatal erweisen.
Mittwoch, 26. Februar: Politischer Aschermittwoch in vollen Hallen in Niederbayern. CSU-Chef Markus Söder spricht 70 Minuten – das Virus ist kein großes Thema. Er überlässt das seit Wochen seiner Gesundheitsministerin. „Corona-Schutz muss Chefsache werden, wenigstens in Bayern“, schreibt unsere Zeitung übrigens noch am 10. März in einem Leitartikel.
Donnerstag, 27. Februar: Eine neue Infektionskette: Ein Arzt aus Erlangen hat sich bei einem Kongress angesteckt.
Freitag, 28. Februar: Die Staatsregierung richtet einen Krisenstab ein. Für Urlaubsheimkehrer aus Italien soll es „Informationsmaterial“ geben – aber keine Quarantäne.
Montag, 2. März: Ferien-Ende, die Schulen öffnen. Kinder, die in Italien Urlaub gemacht haben, dürfen auch zu Hause bleiben.
Mittwoch, 4. März: Die Infektionszahl in Bayern steigt sprunghaft an. Heute weiß man: vor allem wegen der Heimkehrer aus dem Skiurlaub und wegen regionaler Starkbierfeste. Söder spricht im Interview erstmals über eine Rezession. „Wir sollten nicht Kassandra spielen, aber ich bin schon besorgt.“
Freitag, 6. März: Der Nockherberg wird abgesagt. Es gibt kleinere politische Scharmützel mit Münchens OB Dieter Reiter (SPD), doch die Staatsregierung bleibt hart. In Rosenheim beginnt derweil das Starkbierfest.
Montag, 9. März: Immer mehr Schulen schließen wegen Corona-Fällen. Jetzt, eine Woche nach dem Schulstart, verbietet die Staatsregierung für 14 Tage Reiserückkehrern aus Risikogebieten den Schulbesuch. Die SPD verlangt einen Abitur-Notfallplan, Kultusminister Michael Piazolo (FW) kontert, eine Verschiebung stehe nicht zur Debatte.
Dienstag, 10. März: Bayern verbietet alle Großveranstaltungen ab 1000 Gästen. Rosenheim beendet das Starkbierfest nun doch. Zahlreiche Orte sagen ihre Feste ab.
Donnerstag, 12. März: Der erste Corona-Tote in Bayern, ein 80-Jähriger in Würzburg. Aus Regierungskreisen erfährt unsere Zeitung: Bayern will am Montag doch die Schulen und Kindergärten für fünf Wochen schließen. Inzwischen sind 550 Fälle bestätigt.
Freitag, 13. März: Der Landtag schaltet in den Notbetrieb. Die Parteien stoppen den Haustürwahlkampf für die Kommunalwahl. Die Schulschließung wird offiziell verkündet. Besuche in Kliniken und Altenheimen werden drastisch beschränkt.
Sonntag, 15. März: Zur Kommunalwahl sollen Wähler ihren eigenen Stift mitbringen. In der Staatskanzlei bereitet der Corona-Krisenstab das Herunterfahren des öffentlichen Lebens vor.
Montag, 16. März: Bayern ruft offiziell den Katastrophenfall aus. Einschnitte der Grundrechte, die Versammlungsfreiheit wird eingeschränkt. Ärzte müssen Beatmungsgeräte melden, Mediziner und selbst Medizinstudenten sollen sich bereithalten. Künftig müssen Restaurants um 15 Uhr schließen. Alle Schulen, Kindergärten, Kitas, sogar die Spielplätze machen zwangsweise dicht. Die Grenzen zu Österreich, Frankreich, der Schweiz und Dänemark sind geschlossen, Einreisende müssen einen „triftigen Grund“ nennen. Söder sagt, die Krise sei „ein Charaktertest für Bayern“. Mit weiteren Toten sei zu rechnen. Ein zehn Milliarden Euro schweres Hilfspaket soll Bayerns Wirtschaft stützen.
Mittwoch, 18. März: Bayern verschiebt das Abitur um drei Wochen. Um die Hamsterkäufe zu bremsen, lässt sich Söder in einem Supermarkt-Zentrallager fotografieren – vor Paletten mit Klopapier.
Donnerstag, 19. März: „Es geht um Leben und Tod“, sagt Söder in einer Regierungserklärung im gespenstisch leeren Landtag. Er bittet die Bayern inständig, die Corona-Regeln einzuhalten, Abstand zu wahren, und droht mit einer Ausgangssperre. Immer mehr Kulturveranstaltungen werden gestoppt, die Passionsspiele in Oberammergau auf 2022 verlegt.
Freitag, 20. März: Ab sofort darf das Haus nicht mehr ohne Grund verlassen werden. Spaziergänge und Sport bleiben aber erlaubt. Alle Restaurants und viele Läden schließen. Mehrere Orte planen Not-Kliniken in Turnhallen. Sämtliche Parteien im Landtag, auch die AfD, stellen sich hinter die Maßnahmen.
Sonntag, 22. März: Söder warnt in einer telefonischen Konferenz die anderen Ministerpräsidenten vor zu langem Zaudern. Es kommt zu einem heftigen Streit mit NRW-Regierungschef Armin Laschet.
Dienstag, 24. März: Die Corona-Hilfen werden auf 20 Milliarden Euro verdoppelt. Bayern plant neue Schulden.
Freitag, 27. März: Nach langem Warten veröffentlicht Bayern einen Bußgeldkatalog. Verlassen der Wohnung ohne Grund: 150 Euro. Restaurant öffnen: 5000 Euro.
Donnerstag, 2. April: Der Rahmen für die Staatshilfen wird auf 60 Milliarden Euro erhöht. Söder rät zum Maskentragen. „Wir brauchen Milliarden Masken“, sagt er.
Ostersonntag, 12. April: Leere Kirchen an Ostern, denn Gottesdienste sind verboten.
Mittwoch, 15. April: Langsam setzen Debatten über Lockerungen ein. In Bayerns Koalition gibt es Unruhe über das Tempo, Söder bremst.
Dienstag, 21. April: Das Oktoberfest wird abgesagt, zum ersten Mal seit 70 Jahren.
Montag, 27. April: Die Maskenpflicht in ganz Bayern beginnt. Die ersten Klassen dürfen zurück an die Schulen. Mehr Läden dürfen öffnen, weil der Verwaltungsgerichtshof die 800-Quadratmeter-Grenze kippt.
Dienstag, 5. Mai: Markus Söder legt nach wachsendem Druck einen Lockerungsplan vor. Innerhalb von zwei Wochen dürfen alle Geschäfte wieder öffnen, im Lauf des Monats die Restaurants und Hotels. Für Schulen und Kindergärten gibt es ein Stufenmodell. Zoos, Spielplätze, Bibliotheken, Ausstellungen öffnen zügig wieder, Theater nicht. Die ersten Gottesdienste finden unter Auflagen statt.
Samstag, 9. Mai: In München läuft eine Demo gegen die Corona-Regeln aus dem Ruder. Bis zu 3000 Menschen demonstrieren meist ohne Abstand und Maske, teils werden Passanten angepöbelt. Die Polizei greift nicht durch.
Montag, 18. Mai: Biergärten und Außenterrassen öffnen wieder. Vorerst bis 20 Uhr, später zerpflücken Gerichte diese Grenze. Die Freien Wähler dringen auf deutlich schnellere Lockerungen.
Montag, 25. Mai: Restaurants öffnen nun auch innen wieder mit strengen Abstands- und Desinfektionsregeln. Kitas kehren schrittweise in den Normalbetrieb zurück.
Samstag, 30. Mai: Der Tourismus startet pünktlich zu den Pfingstferien. Hotels nehmen nun wieder Urlauber auf.
Montag, 8. Juni: Neustart für Fitnessstudios und Bäder.
Montag, 15. Juni: Neustart für Theater und Kinos – unter sehr engen Höchstgrenzen.
Dienstag, 16. Juni: Der Katastrophenfall wird aufgehoben. Die Kontaktlimits werden gelockert. Ab Mittwoch dürfen sich bis zu zehn Personen im Freien treffen. De facto kommt das einer Freigabe in den Parks gleich. Für Feiern wie Hochzeiten gilt eine 50er-Grenze (draußen: 100). Sport-Training wird deutlich erleichtert.
Dienstag, 30. Juni: Das Kabinett beschließt kostenlose Corona-Tests in Bayern – bundesweit ist das einzigartig.
Dienstag, 7. Juli: Tiefpunkt im Landtag: Ein AfD-Redner tritt mit Gasmaske ans Pult, um die Maskenpflicht lächerlich zu machen.
Dienstag, 28. Juli: Bayern richtet Teststationen an den Autobahnen in Grenznähe ein. Später häufen sich dort Pannen. Gleichzeitig läuft der Kampf gegen einen Corona-Hotspot unter Erntehelfern in Niederbayern. Der Ministerrat ermuntert außerdem Kommunen, Alkoholverbote für Brennpunkte zu erlassen.
Mittwoch, 12. August: Die Staatsregierung rutscht in die Krise, als das tagelang unter der Decke gehaltene Ausmaß der Test-Pannen öffentlich wird. Huml schrammt knapp am Rücktritt vorbei.
Montag, 7. September: Das Kabinett beschließt Lockerungen für Amateursportler, für Schankwirtschaften und große Konzertsäle in München. Die Autobahn-Tests werden wieder beerdigt.
Dienstag, 8. September: Die Schulen öffnen wieder, vorerst im Normalbetrieb, aber mit zweiwöchiger Maskenpflicht im Klassenzimmer.