14 Stunden auf Klinikbett-Suche

von Redaktion

VON SEBASTIAN HORSCH

München – Anjuna war schon im Februar immer wieder erkältet. Doch nach dem Südtirol-Urlaub mit ihrem Vater ging es der Neunjährigen richtig schlecht. Das Mädchen, das mit Down-Syndrom zur Welt kam, hatte „Fieber, Husten und wahrscheinlich auch schon eine Lungenentzündung“, sagt ihre Mutter Diana Dietze. Am Montagmorgen, 2. März, brachte sie ihre Tochter deshalb um 7 Uhr zur Kinderärztin. Die Medizinerin fackelte nicht lange: Sie ließ das Mädchen direkt mit einem Krankenwagen in die Haunersche Kinderklinik fahren.

Gegen 8 Uhr kamen Mutter und Tochter dort an. Erste Untersuchungen zeigten, dass Anjuna sich immerhin nicht mit dem neuen Coronavirus angesteckt hatte, das in Italien schon weit verbreitet war und auch in Bayern immer mehr Menschen traf. Stattdessen seien Mikroplasmen, also Bakterien, die Ursache für Anjunas Beschwerden. Ihre Mutter war erleichtert – zunächst.

Doch nun begann eine Zitterpartie. Denn das Krankenhaus hatte keinen Platz für Anjuna. „Gegen 9 oder 10 Uhr sagte uns eine Ärztin, dass sie uns nicht aufnehmen können“, erzählt Diana Dietze. Die Klinik fragte bei anderen Häusern an, doch in ganz München war kein Bett frei. „Gegen Mittag sagte man uns, dass wir deshalb wahrscheinlich nach Garmisch verlegt werden“, erinnert sich Diana Dietze. Doch nichts geschah, bis es plötzlich hieß, dass auch dort kein Platz für sie sei. „Dann hat es noch einmal gedauert, bis wir erfuhren, dass wir nach Passau kommen.“

Inzwischen war es Nachmittag, Mutter und Tochter verbrachten die ganze Zeit auf einer Liege, gegessen hatten sie den Tag über nichts. Außer einer Infusion für die Flüssigkeitsversorgung habe das Mädchen bis dahin auch kein Medikament bekommen. „Wir warteten über acht Stunden in einer Notaufnahme – mit Ärzten, die keine Zeit hatten, uns zu helfen“, sagt Diana Dietze. Gegen 16 Uhr kam schließlich der Krankentransport. „Wir waren dann noch einmal drei Stunden unterwegs.“

Ein Einzelfall? Das könnte man meinen, wenn man die Lage-Einschätzung des bayerischen Gesundheitsministeriums liest. „Klar ist: Die medizinische Versorgung von Kindern in unseren bayerischen Krankenhäusern ist insgesamt und auch in München nach wie vor auf hohem Niveau gesichert“, teilt ein Sprecher auf Anfrage mit. Mit 43 Kinder- und Jugend-Krankenhäusern sowie 37 Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie verfüge der Freistaat über ein engmaschiges Netz.

Doch dass es nicht ganz so einfach ist, wird schnell klar, wenn man in die Kommentare zur Online-Petition „Kinderstationen retten“ blickt (siehe Kasten). Etliche bayerische Eltern berichten hier über ihre negativen Erfahrungen. „Es kann doch nicht sein, dass meine 3-jährige Enkeltochter (…) in München wegen Bettenmangel nicht behandelt werden konnte“, empört sich ein Großvater. Auch Mediziner melden sich zu Wort. Eine Oberärztin berichtet von „katastrophalen Zuständen“. Ein Kinderarzt sieht sogar „die stationäre Versorgung schwer kranker Kinder nicht gewährleistet“.

Tatsächlich gerieten zuletzt bundesweit immer wieder Kinderabteilungen in Probleme und mussten Patienten abweisen – nicht nur die Haunersche Kinderklinik. Das Kinderkrebszentrum der Berliner Charité verordnete sich selbst sogar einen vorübergehenden Aufnahmestopp. Und das Münchner TU-Klinikum rechts der Isar schloss Ende Juni seine Kinder- und Jugendpsychosomatik – wegen einer „ungünstigen Kosten-Erlös-Struktur“. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte warnt sogar vor einem „Kinderkliniksterben“. Was läuft da schief?

Spricht man mit Experten, wird vor allem der Fachkräftemangel als zentrales Problem genannt. Weil es auch in Kinderkliniken zu wenige Pflegekräfte gibt, müssen immer wieder sogar Kinder abgewiesen werden, obwohl Betten leer stehen. „Das ist für uns alle natürlich extrem bedrückend“, sagt Christoph Klein, der Direktor der Haunerschen Kinderklinik. Auch das bayerische Gesundheitsministerium sieht dafür, dass es trotz der allgemein guten Versorgungslage insbesondere in München immer wieder zu Engpässen kommt, vor allem diesen Personalmangel als Grund.

Dazu kommt der wirtschaftliche Druck. Krankenhäuser werden über sogenannte Fallpauschalen vergütet. Das bedeutet, dass für eine bestimmte Behandlung ein festgelegter Betrag fließt. Doch Spitzen oder Besonderheiten würden damit oft nicht ausreichend abgedeckt, klagen Kliniken. Und mit Besonderheiten muss man bei der Behandlung von Kindern immer rechnen. Eine einfache Blutabnahme wird da schnell zum Kraftakt. Viele Kinderabteilungen sehen ihren Aufwand durch die Zahlungen der Krankenkassen schlicht nicht gedeckt.

Damit zumindest für die Versorgung wichtige Abteilungen und Kliniken künftig nicht mehr gefährdet werden, berät die im Gesundheitssystem zuständige Selbstverwaltung in diesem Jahr über Sicherstellungszuschläge für die Häuser. Schon in Kürze sei mit einem Beschluss zu rechnen, heißt es auf Anfrage unserer Zeitung aus dem Bundesgesundheitsministerium von Jens Spahn (CDU). Zudem sei vorgesehen, Fachabteilungen für Kinder- und Jugendmedizin in die Förderung ländlicher Krankenhäuser einzubeziehen.

Ein schwerwiegendes Systemproblem sieht das Ministerium in Berlin aber offenbar nicht. Grundsätzlich seien die Leistungen der Kliniken „mit inzwischen 313 gesonderten Kinderpauschalen“ sehr differenziert abgebildet. „Dennoch geht das Ministerium den Klagen der Verbände und Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin intensiv nach“, schreibt Spahns Haus weiter. Man prüfe, ob weitere Verbesserungen der Vergütungen nötig seien.

Für die SPD ist hingegen klar: Es ist das Vergütungs-System über Fallpauschalen, das in der Kindermedizin Schaden anrichtet. Deshalb bringt Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) einen Antrag in den Bundesrat ein, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, „eine flächendeckende stationäre pädiatrische Versorgung außerhalb des Fallpauschalensystems zu entwickeln“.

Am 18. September sollen die Länder voraussichtlich darüber entscheiden. Bremen und Sachsen-Anhalt haben Zustimmung angekündigt. Die bayerische SPD-Gesundheitspolitikerin Ruth Waldmann hat einen Brief an Ministerpräsident Markus Söder (CSU) geschickt. „Ich bitte Sie dringend, diesen Antrag im Bundesrat zu unterstützen!“, schreibt sie. „Es darf einfach nicht länger sein, dass die Versorgung der jungen PatientInnen gefährdet ist, weil sie sich nicht rechnet!“

Das Haus von Söders Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) will auf Nachfrage unserer Zeitung allerdings keine Stellung zum Vorstoß aus Mecklenburg-Vorpommern nehmen. Da das Land die Initiative noch nicht offiziell eingebracht habe, könne man sie nicht bewerten.

Als Diana Dietze im März mit ihrer Tochter in Passau ankam, musste Anjuna auch dort zunächst wieder in die Notaufnahme. Erst um 21 Uhr wurde das kranke Kind auf ein Zimmer gebracht, erinnert sich ihre Mutter – 14 Stunden nach dem Besuch bei der Kinderärztin hatte Anjuna endlich ein Bett. Sie habe eine solche Situation in Bayern nicht für möglich gehalten, sagt Diana Dietze. „Das hat mich extrem geschockt.“

Freistaat sieht Versorgung gesichert

Ein Problem ist der Fachkräftemangel

Kliniken klagen über Fallpauschalen

Länder beraten über Schwesig-Antrag

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