München – Es gibt keinen Knall in diesem Moment, keinen Wumms und kein Trara. So leise schleicht die Botschaft in den Saal, dass nachher manche CSU-Abgeordnete staunen, sie hätten es fast überhört. Seit einer Stunde hält Markus Söder vor seiner Fraktion seine halbjährliche Grundsatzrede, ein Auftritt eher in Moll: leise, erklärend, im Sitzen neben einer Flasche Cola light. Er hat seine Corona-Politik erläutert, hat reihum gegrüßt, gedankt und gelobt, er hat sie alle eingelullt. Dann lässt er wie nebenbei noch etwas fallen: Den Flughäfen gehe es in der Krise leider recht schlecht. Man werde ihnen aus dem Staatshaushalt helfen müssen.
Und: „In meiner Amtszeit wird die dritte Startbahn nicht mehr kommen.“
Nicht alle in der Klausur der CSU, diesmal coronabedingt im Münchner Maximilianeum statt im prächtigen Kloster Banz, verstehen sofort die Tragweite des Satzes. Tatsächlich ist er die Beerdigung eines der größten offenen Infrastrukturprojekte in Bayern. Söder meint in parteitypischem Selbstbewusstsein mit seiner „Amtszeit“ ja nicht irgendwelche Daten in näherer Zukunft, Wahlen zum Beispiel, sondern das selbst gesteckte Limit von 2028. So lange keine Startbahn – das bedeutet: Das bestehende Baurecht für die Startbahn erlischt, rein rechtlich gesehen schon 2025. Würde der Flughafen eine einmalige fünfjährige Verlängerungsoption ziehen (die aber ausführlich begründet werden muss), wäre 2030 endgültig Schluss.
Söder spricht das Todesurteil nicht explizit aus, hält aber wortreich die Trauerrede. „Auf ganz lange Zeit werden wir nicht annähernd die früheren Flugzahlen haben.“ Um die nach letzter Schätzung 1,5 Milliarden Euro teure Startbahn in Eigenregie zu zahlen, habe die Flughafen-Gesellschaft das Geld nicht mehr. Dann redet er auch übers Klima: „Es gibt eine andere Balance zwischen Flug und Klimaschutz. Der Bau ist weder ökonomisch noch ökologisch angesagt.“
Das mit der Balance trifft freilich auch auf die CSU zu, und deshalb gibt es in der Partei, die über Jahrzehnte die dritte Piste predigte, nun kaum Heulen und Zähneklappern. Das wirtschaftliche Argument ist schlüssig. Hinzu kommt, dass sich die Regierungspartei ein Ärgernis vom Bein schafft – schlechte Wahlergebnisse in der Flughafen-Region, interne Konflikte zwischen örtlichen Abgeordneten und überörtlichen Wirtschaftspolitikern, der Zoff mit dem Koalitionspartner Freie Wähler. FW-Chef Hubert Aiwanger hat ja erst vergangene Woche erklärt, er würde die Startbahn wieder gerne zum Koalitionsthema machen. Das ist jetzt hinfällig.
In Freising hört Hartmut Binner die Nachricht. In Jubel bricht er nicht aus. „Es ist positiv zu bewerten“, sagt er nüchtern. Binner wird nächste Woche 82, der Hüne, über 1,90 Meter groß, früher Polizist, ehemaliger Faustball-Meister, geht an einer Krücke. Aber er ist die Galionsfigur des Widerstands gegen die Flugpiste – seit Beginn, seit 2005, als die Flughafen-Gesellschafter den Auftrag zur Startbahn-Planung erteilte. Lange engagierte sich Binner im Anti-Startbahn-Bündnis „Aufgemuckt“ – Motto: „Es kämpft sich nicht schlecht für Heimat und Recht“. Er war bei den Anhörungen zum Planfeststellungsbeschluss dabei, der 2011 in die Genehmigung mündete. 2837 Seiten ist die Baugenehmigung lang – und dass sie bis heute nie vollzogen wurde, liegt wohl auch an Leuten wie Binner. Unvergessen sein Einsatz vor dem Münchner Bürgerentscheid 2012. Damals sammelte er im strömenden Regen Unterschriften – und traf auf uninformierte Münchner, denen die Piste da weit draußen im Erdinger Moos herzlich egal schien. „Wieso 3. Startbahn, ich dachte 2. Stammstrecke“ – das war die Informationslage bei manchen.
Aber dann kippten sie das Projekt mit über 54 Prozent. Da München 23 Prozent der Anteile an der Flughafen GmbH besitzt und der Bau Einstimmigkeit voraussetzt, war das Projekt vorerst gestoppt – wenngleich nicht endgültig beerdigt, denn die Baugenehmigung bestand ja fort. Einmal besuchte der damalige Ministerpräsident Seehofer den Widerstands-Ort Attaching: „Sie haben sehr gute Argumente“, rief er den 3000 Bürgern zu. Frenetischer Jubel – aber abgesagt wurde die Startbahn dann doch nicht. Die Freien Wähler, seit 2018 Koalitionspartner, konnten der CSU nur ein Moratorium bis 2023 abtrotzen.
Immer noch treffen sich die Leute von „Aufgemuckt“, erst letzte Woche per Videokonferenz. Und beobachten erstaunt, wie ein Jobmotor ins Stottern gerät. Aktuell liegt das Passagieraufkommen am Flughafen bei knapp 20 Prozent des Vorjahres, maximal 16 Millionen werden es im Jahr 2020 sein. Im Jahr zuvor waren es 48 Millionen. Auch die Flugbewegungen schwächeln so sehr, dass rein rechnerisch derzeit wohl eine Bahn ausreichen würde – nur ein Drittel der zuletzt über 400 000 Flüge werden es in der Jahresbilanz wohl werden. Zudem kommt das Programm „Restart“ auf die knapp 10 000 Beschäftigten zu. Soll heißen: Über Abfindungen und Vorruhestandsregelungen soll ein in der Geschichte des Airports einzigartiger Personalabbau vorangetrieben werden. Auch jetzt noch flattern fast wöchentlich neue Hiobsbotschaften herein – eben erst hat Lufthansa-Chef Carsten Spohr seine Leute auf weitere Einschnitte eingestimmt.
Ist es da ein Wunder, dass die Gegner das endgültige Aus für die Bahn verlangen? Noch spricht der Flughafen nur von einer „Verlängerung des Moratoriums“, die „vor dem Hintergrund der massiven pandemiebedingten Verkehrseinbrüche nachvollziehbar“ sei. Christian Magerl, früher Grünen-Abgeordneter und jetzt Sprecher von „Aufgemuckt“, verlangt mehr: Die Baugenehmigung müsse aufgehoben werden. Man müsse wachsam bleiben.
Binner sitzt heute für die ÖDP im Freisinger Stadtrat. „Als Mahner und Warner“, wie er sagt. Erst am 17. Juni – dem 8. Jahrestag des Münchner Bürgerentscheids – hat er wieder an Söder geschrieben, ihn aufgefordert, „dass der Flughafenausbau als Zeichen einer ökologisch nachhaltigen Politik gestoppt“ werde. Den Brief hat Söder bis heute nicht beantwortet. Kann sein, dass er sich jetzt leichter tut.