„Ohne die Wiesn schlägt mein Herz nur noch fünf Mal die Woche“

von Redaktion

Manfred Schauer, 67, ist eines der bekanntesten Gesichter des Oktoberfests. Er betreibt das älteste Wiesn-Geschäft, den „Schichtl“. Ein Interview pünktlich zum Anstichtag, den es heuer nicht geben wird.

Manfred Schauer, 67, steht auf der Theresienwiese. Eigentlich würde hier ab heute das größte Volksfest der Welt stattfinden, doch die Wiesn ist zeltlos. Fast zeltlos. Denn neben der Bavaria hat die Stadt eine Corona-Teststation aufgebaut. Schauer deutet auf die andere Seite. „Dort würde eigentlich der Schichtl stehen“, sagt er. Seit anderthalb Jahrhunderten gibt’s in dem Traditionstheater „Enthauptung einer lebenden Person auf offener, hell erleuchteter Bühne mittels Guillotine“. Schauer betreut an 16 Wiesntagen bis zu 370 Hinrichtungen. Doch heuer bleibt das berühmte Fallbeil in der Abstellkammer – Corona hat die ganze Wiesn geköpft.

Was ist das für ein Gefühl, Mitte September auf die leere, staubige Theresienwiese zu blicken?

Ein staubiges Gefühl. Als ich im April zum ersten Mal gehört habe, dass es heuer keine Wiesn geben wird, hat es mir sauber die Seele verstaucht. Mein Herz schlägt nur noch fünf Mal die Woche, zwei Tage also gar nicht. Aber ich lebe trotzdem noch. Das freut mich. (lacht).

Am heutigen Samstag um 12 Uhr wäre Anstich. Was machen Sie stattdessen?

Ich habe mich mit meinem elfköpfigen Kabinett verabredet. Wir gehen in unserem Schichtl-Gwand in die Innenstadt, trinken eine Halbe oder auch zwei und zeigen, dass wir stabil und senkrecht bleiben.

Ein Virus, das die ganze Welt erschüttert, zwingt den Schichtl in die Knie. Aber man muss auch sagen: Von was Kleinerem hätten Sie sich auch nicht vom Spielen abhalten lassen, oder?

2012 hab’ ich mir eine saubere Grippe eingefangen. Ich bin auf meinem Stuhl hinter der Bühne gesessen und habe nur geschlafen. Immer wenn draußen Parade war, hat mich jemand aus dem Kabinett geweckt. Ich war fix und fertig. Irgendwann war es so schlimm, dass ich daheimbleiben musste. In der Früh hab’ ich dann Radio gehört, Bayern 3. Da hat der Sprecher doch tatsächlich gesagt: „Wir haben uns erkundigt. Der Schichtl kommt morgen wieder. Er hat bloß a Grippe.“ Also hab’ ich gedacht: „Mei, wenn das Radio des sagt, dann geh i halt wieder hin.“

Einmal mussten Sie sogar ins Krankenhaus.

Am mittleren Wiesnsamstag 2014 ging es mir schlecht. Ich stand auf der Bühne und habe kein Wort mehr rausgebracht. Ich habe dem Ringo, meinem Henker, wortlos das Mikro gegeben. Kurz darauf hat mich der Notarzt nach Großhadern gefahren, Intensivstation. Das war arg. Ich war verkabelt wie ein Roboter. Mir war schlagartig die Kraft ausgegangen, ich bin aber auch relativ schnell wieder mit mir im Klaren gewesen. Wenn’s da links und rechts von dir pfeift und röchelt, fragst dich schon, ob man da hingehört. Irgendwann habe ich einen Knopf gedrückt, und es sind gleich drei Pfleger angerannt gekommen. Denen habe ich gesagt: „Papiere, bitte! Ich geh’ wieder, ich muss morgen dringend auf die Wiesn.“

Wie hat das Klinik- personal reagiert?

Die haben gesagt: „Das können Sie nicht machen!“ Darauf habe ich geantwortet: „Ich versprech’ Euch: Ich sterb’ heute nicht.“ Am Sonntagmittag war ich wieder auf der Bühne und das war intuitiv das Richtige.

Warum?

Weil erst am Schluss gestorben wird. Ich kenn’ keinen, der vorher gestorben ist. Der Schichtl während der Wiesn in der Klinik? Mei, des geht doch ned. Gstorbn oder ned – zwischendrin gibt es bei uns nicht. Ich habe schon vor Corona bei meinem Kabinett jeden Tag die Temperatur gemessen. Wenn einer unter 39 Grad Celsius zum Zelt kommt, schick ich ihn wieder heim. Für den Schichtl glüht man. (lacht).

Der Schichtl ist Ihr Leben. Aber es gab auch ein Leben vor dem Schichtl.

Meine Eltern hatten einen Fruchthandel in der Großmarkthalle in München, sie haben auch Weihnachtsbäume verkauft. Das war eine schöne Zeit, eine ehrliche Zeit. Ab meinem 12. Lebensjahr habe ich mit angepackt. Für eine Mark in der Stunde habe ich Kisten geschleppt. In den Osterferien 1966 habe ich mir die Firmenautos geschnappt. Die Großmarkthalle war ein abgeschlossenes Areal. Dort habe ich Dreitonner fahren gelernt. Mit 13.

Klingt nach einer schönen Jugend.

Ja. Ich habe immer gerne gearbeitet. Ich war immer ein schneller Arbeiter. Aber ich bin auch ein ungeduldiger Mensch, leider. Später, mit 23, habe ich mich dann selbstständig gemacht. Und zwar mit einem Randprodukt, das ich beim Vater gesehen habe. Tannengrün.

Der berühmte Schichtl von der Wiesn war mal Tannengrün-Händler?

Ja. Gearbeitet habe ich eigentlich nur von Anfang September bis kurz vorm Heiligen Abend. Das Tannengrün kam aus Dänemark und ich war mit dem Zeug ein Exot in München. Ich hab’ damit gut Geld verdient. Die restlichen neun Monate musste ich dann nix mehr tun. Der Schlendrian ist ein paar Jahre gut gegangen. Aber irgendwann nicht mehr. Anfang der 1980er-Jahre habe ich mich in der Großmarkthalle niedergelassen und hab’ Friedhofskränze und Adventskränze verkauft. „Grüne Löcher“ hab’ ich das genannt. Auf meinem Lieferwagen stand: „Schauer – schneller als der Tod“.

Ernsthaft?

Klar. Das war zwar wahnsinnig lustig, aber ist nicht so gut angekommen bei den Blumenläden an den Friedhöfen. Angehörige haben dort ihre Liebsten betrauert und dann bin ich mit meinem Auto vorgefahren. Also habe ich den Text geändert: „Keine Trauer ohne Schauer“.

Waren Sie damals bereits der Schichtl, aber wussten es noch gar nicht?

Das kann sein. Ich war schon immer so, ich hab’ schon früh Theater gespielt. Wir haben wilde, irre Sachen gemacht. Der Unfug haust als Dauergast in meinem Schädel. Ich weiß nur nicht, wann er eingezogen ist. Mitte der 1990er-Jahre habe ich den Pumpen-Bruno kennengelernt, den berühmten Münchner Herzchirurgen Bruno Reichart. Wir haben jedem Geköpften dann einen Organspende-Ausweis gegeben. Er hat die Aktion unterstützt.

Jetzt fehlt der Zwischenschritt. Wie sind Sie von den Kränzen auf die Wiesn gekommen?

1985 hat ein Freund spätabends bei mir angerufen und gesagt, dass wir uns unbedingt treffen müssen, weil Franziska Eichelsdörfer, die alte Schichtlin von der Wiesn, einen Nachfolger sucht. Ich war davor noch nie beim Schichtl. Trotzdem habe ich gesagt: „Na klar, da bin ich dabei.“ Doch auch Feinkost-König Gerd Käfer hatte Wind davon bekommen. Also haben wir uns mit der Besitzerin in Verbindung gesetzt. Ich habe gefragt: „Frau Eichelsdörfer, kommen wir noch ins Geschäft?“ Sie hat geantwortet: „Jawohl. Gestern war Herr Käfer da, der hat das ganze Geld in bar dabeigehabt. Aber wer an einem Sonntag mit so viel Geld rumläuft, der ist nicht seriös.“ Dann haben wir einen Vertrag mit ihr gemacht und der Schichtl gehörte uns.

Wie war die erste Wiesn?

Eine Katastrophe. Der erste Gast am ersten Tag hat gleich reklamiert, dass er an seinem Hemdkragen Theaterblut abbekommen hat. In der ersten Woche wollte ich jeden Tag aufhören.

Sie haben den Schichtl wieder zu einer Münchner Institution gemacht. Einmal habt ihr einen russischen Politiker geköpft?

Wir wollten! Das war der Bürgermeister von St. Petersburg. Er war mit seinen Körperwächtern in der ersten Reihe, dann haben wir ihn auf die Bühne geholt, eine Riesenehre. Für ihn! Er sieht die Guillotine aus der Nähe, springt von der Bühne und rennt aus dem Zelt. Der hat das für ernst genommen mit dem Köpfen. Aber vielleicht war er auch nur rauschig.

Man merkt es Ihnen an. Die Entzugserscheinungen sind riesig. Glauben Sie, dass es 2021 eine Wiesn geben wird?

Ich hasse diese Frage. Ich schlage vor, wir lassen in diesen Interview ein paar Zentimeter frei. Dort kann jeder Leser reinschreiben, was er meint. Fakt ist, es wird gerade ein Stück Münchner Zeitgeschichte geschrieben. Es wird in die Archive der Stadt eingehen, dass es anno 2020 keine Wiesn gegeben hat.

Wie geht es mit dem Schichtl weiter?

Ich bin der vierte Inhaber in 150 Jahren. Die drei vorherigen hatten keine Kinder und ich habe auch keine. Das ist irgendwie schräg. Ich bin gut drauf und total fit, trotzdem ist es Zeit, nach einem Nachfolger zu schaun.

Das Varieté-Theater ist irgendwie Ihr Kind. Sie fühlen sich verantwortlich.

Absolut! Ich habe gelitten und geblutet für den Schichtl, bin rumgetobt wie ein Irrer und habe als Quittung Cortison-Spitzen bekommen. Einmal hat’s mir den Meniskus zerrissen und ich hab’ trotzdem weitergemacht. Ich hab’ so viel Adrenalin auf der Bühne, dass die Schmerzen gar nicht real sind. 2014 haben sie mir ein neues Knie montiert. Im März hab’ ich mir eine neue Hüfte gekauft, funktioniert tadellos. Doch jetzt gibt’s die Wiesn ned. Ewig schad.

Interview: Stefan Sessler und Wolfgang Hauskrecht

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