Professor Dr. Paul Thomes war bis März 2020 Leiter des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Technologiegeschichte an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften an der RWTH Aachen.
Herr Thomes: Ist Bargeld auf dem Rückzug?
Definitiv. Obwohl Deutschland immer noch eine sehr bargeldaffine Gesellschaft ist. Wir haben weltweit das dichteste Geldautomatensystem. In Schweden werden Sie schon schief angeguckt, wenn Sie eine Tasse Kaffee bar bezahlen wollen.
Warum stirbt Bargeld?
Ein Grund sind die hohen volkswirtschaftlichen Kosten. In Deutschland sind es wohl rund 150 Euro pro Person und Jahr – insgesamt also 12,5 Milliarden Euro. Die Geschäfte drängen mehr und mehr auf bargeldloses Bezahlen. Nicht umsonst können Sie neuerdings in vielen Supermärkten oder Tankstellen Bargeld abheben. Der Einzelhandel spart, in dem er das Geld nicht zur Bank bringt, sondern direkt wieder an den Verbraucher abgibt. Und die jüngeren Generationen sind digital sozialisiert. Einen Geldbeutel empfinden junge Menschen eher als Last.
Viele ältere Menschen zahlen lieber mit Bargeld.
Weil die ältere Generation, zu der ich auch gehöre, analog sozialisiert ist. Bargeld vermittelt zudem ein Gefühl der Sicherheit. Aber da spielt viel Nostalgie mit. Ich selbst bin 67 und habe bislang keine negative Erfahrung mit Digitalzahlungen gemacht; ich denke, kein Einzelfall.
Wie sicher sind denn digitale Geldbörsen?
Ich bin kein Technikexperte. Natürlich kann man Sicherheit nie ganz garantieren – das gilt analog allerdings auch. Ihr Geldbeutel kann gestohlen werden oder verloren gehen. Oder man dreht Ihnen Falschgeld an.
Sie sagen analog und digital. Warum?
Was ist denn Bargeld? Bar heißt ja: jederzeit verfügbar. Wenn Sie also mit Karte oder Handy bezahlen, ist das auch bar – und zwar in einem sehr viel umfänglicheren Maß. Denn Sie können nicht nur das Geld nutzen, das sie gerade in der Tasche haben. Bargeld ist ein relativer Begriff. Ich könnte mir vorstellen, dass auch Digitalgeld bald als Bargeld bezeichnet wird.
Bargeld gibt mir aber ein Stück Anonymität. Bei digitaler Zahlung hinterlasse ich Daten, werde gläsern. Mit Datenhandel werden ja Milliarden verdient …
Solche Informationen geben Sie doch schon über viele andere Kanäle preis. Ich wundere mich immer, wie freizügig die Leute mit persönlichen Informationen sind. Eigentlich müssten Facebook, Twitter, Whatsapp und andere ihren Nutzern dafür Geld bezahlen, dass sie diese Informationen wirtschaftlich verwerten.
Wir sind längst gläsern?
So ist es. Insofern ist es kein großer Schritt mehr, analoges gegen digitales Bargeld zu ersetzen.
Die Bundesbank schreibt, Bargeld werde noch lange nicht aus der Mode sein …
Ich würde eine solche Prognose nicht wagen. Ich gehe davon aus, dass die Bedeutung weiter stark zurückgeht. Corona beschleunigt diesen Prozess. Denken Sie nur an den boomenden Online-Handel.
Sarah Spiekermann von der Wirtschaftsuniversität Wien warnt vor einem „Überwachungskapitalismus“ durch Datenhandel: Man zahlt je nach Einkommen unterschiedliche Preise für Hotels, bekommt keine Versicherung mehr… Droht der völlig kommerzialisierte Mensch?
Die Entwicklung scheint nicht aufzuhalten. Wenn in der Vergangenheit etwas technisch möglich war, wurde es auch umgesetzt. Was wir deshalb dringend brauchen, sind funktionierende rechtliche Rahmenbedingungen. Dafür muss die Politik sorgen. Jeder von uns kann heute zu jeder Zeit an jedem Ort der Welt wirtschaftlich tätig werden. Deshalb brauchen wir globale Schutzmechanismen. Es darf auch nicht sein, dass jemand einen besseren Preis bekommt, weil er beispielsweise besser verdient.
Sie persönlich scheinen aber nicht allzu große Sorge zu haben?
Doch, ich sehe die Dinge durchaus kritisch. Aber am Ende ist es eine Kosten-Nutzen-Abwägung für Anbieter und Nutzer. Wenn ich zeit- und kostensparend online zahlen kann, tue ich das. Der Reiz dieser Techniken ist groß. Sobald Sie das Internet nutzen, etwa um zu mailen, werden Sie transparent im Handeln – und im Denken. Das sehen Sie etwa an der Werbung im Internet. Die ist komplett auf Sie zugeschnitten. Das sollte zu denken geben.
Kann Politik mit der Entwicklung Schritt halten?
Es stimmt: Die Politik hinkt per se immer etwas hinterher. Zugleich steigt das Bewusstsein für die Rasanz des Wandels. Darin liegt die Chance, proaktiv als Politik und Gesellschaft Datenmissbrauch zu verhindern. Wir dürfen nicht die Rolle des Konsumschafs übernehmen, das unreflektiert jedem Trend folgt. Schulen und Universitäten müssen mehr denn je auch kritisches Denken vermitteln.
In einer Demokratie mag das so funktionieren …
Das ist tatsächlich der entscheidende Punkt. In autoritären Regimen würde ich auch nur mit Bargeld bezahlen.
Interview: Wolfgang Hauskrecht