München – Claudia Sommerer, 43, hat sich extra am Vortag schon Gedanken gemacht, wie sie ohne die U-Bahn zu ihrem Arbeitsplatz, einer Münchner Klinik, kommen soll. Sie wusste, dass ein Streik München lahmlegen wird. Trotzdem steht sie jetzt am Dienstag in der Früh am Busbahnhof am Ostbahnhof. Sie ist ein bisschen verzweifelt. „Die S-Bahn kam zu spät, dann habe ich meinen Bus verpasst und jetzt komme ich viel zu spät in die Arbeit“, sagt sie. „Ich finde einen Streik in dieser Situation unmöglich. Die Leute können einfach keinen Abstand halten. Für Risikopatienten wie mich ist das sehr schwierig.“
Die Wut der Pendler ist an diesem Morgen groß. In elf bayerischen Städten traten die Beschäftigten von kommunalen Verkehrsbetrieben und privaten Omnibusunternehmen in den Warnstreik, darunter in München, Nürnberg, Augsburg und Würzburg. Die Gewerkschaft Verdi sprach von einem vollen Erfolg. Das sehen nicht alle so. Markus Wein, 52, arbeitet als Übersetzer. Er steht an diesem Streiktag am Ostbahnhof. „Pünktlich in die Arbeit komme ich jetzt nicht mehr“, schimpft er. „Ich finde den Streik-Zeitpunkt ungünstig gewählt – mitten in einer Pandemie!“
Aber es gibt auch abgehärtete Berufspendler, die trotz übervoller Busse, Stau, Corona und Regenwetter ihre gute Laune bewahren. „Ich verstehe die Verbitterung der Angestellten im öffentlichen Dienst“, sagt Dario Bergmann, 36, aus Pasing. „Vor allem Krankenpflegern wurde in Corona-Hochzeiten ja eigentlich mehr Geld versprochen. Ich glaube aber auch, dass es Möglichkeiten gäbe, Konflikte anders, besser zu lösen. Für mich war der Tag heute wie jeder andere. Ich fahre immer mit den Öffentlichen von Pasing nach Taufkirchen, da gehören Verspätungen sowieso dazu.“
Da alle U-Bahnen bis 18 Uhr komplett ausfielen, drängten sich die Fahrgäste in den wenigen Trambahnen und Bussen, die fuhren, dicht an dicht. An Corona-Abstandsregeln war nicht zu denken. Laut Verdi haben sich rund 80 Prozent aller Münchner Fahrer am Streik beteiligt. Daher konnten lediglich die Tramlinien 16, 17, 19 und 27 bedient werden. Genauso wie die Busse fuhren sie alle lediglich im 20-Minuten-Takt. Die Folge: Viele Linien waren so voll, dass das MVG-Personal kaum mehr die Türen schließen konnte. Nicht nur die Fahrgäste, auch die MVG ist darüber entsprechend verärgert: „Dieser Streik ist deplatziert“, sagt Sprecher Matthias Korte. Es sei außergewöhnlich, dass München zu solch einem frühen Zeitpunkt und so massiv bestreikt werde. „Wir hatten Verdi schon im Vorfeld aufgefordert, den Tarifkonflikt am Verhandlungstisch zu lösen.“ In Corona-Zeiten werde der Tarifkonflikt doppelt auf dem Rücken der Fahrgäste ausgetragen.
Verdi sieht das Problem des fehlenden Mindestabstands zwar, verteidigt die Aktion aber dennoch. „Die Tarifverhandlungen laufen jetzt, da können wir nicht in einem Jahr aktiv werden“, sagt der Münchner Gewerkschaftssekretär Franz Schütz von Verdi.
Verdi und der Beamtenbund dbb fordern für die bundesweit 2,3 Millionen Tarifbeschäftigten von Bund und Kommunen 4,8 Prozent mehr Geld, mindestens aber 150 Euro. Mitte September war die zweite Verhandlungsrunde ohne Ergebnis geblieben. Verdi fordert zudem einen bundesweiten Tarifvertrag für die rund 87 000 Beschäftigten im öffentlichen Nahverkehr. Darüber wollen die kommunalen Arbeitgeber gar nicht erst verhandeln. Auch deshalb kam es zum Streik, der vielen Politikern und Virologen den Angstschweiß auf die Stirn treiben dürfte.
Im bayerischen Gesundheitsministerium scheint man allerdings relativ gelassen. „Uns sind bislang keine Fälle bekannt geworden, bei denen sich eine Infektion mit dem Coronavirus auf die Nutzung des ÖPNV zurückführen lässt“, teilte das Haus von Melanie Huml (CSU) gestern mit. Maskenpflicht und Hygieneregeln würden dabei einen entscheidenden Beitrag leisten. Das gelte besonders auch für streikbedingte Fahrgastspitzen. Trotzdem appelliert ein Sprecher an die Gewerkschaft: „Alle Maßnahmen, die direkt oder mittelbar dazu führen, dass es zu einer Unterschreitung der Abstandsregeln kommt, sollten das damit einhergehende Risiko für Dritte ausreichend berücksichtigen.“
Agron Alija, 47, ist seit 2008 Bus- und Trambahnfahrer in München. Er hat mitgestreikt. Er findet, dass er und seine Kollegen zu wenig Wertschätzung erfahren. „Zu Beginn der Corona-Krise wurden wir MVG-Fahrer beklatscht, mittlerweile sind wir schon fast wieder vergessen“, sagt er. „Dabei sind wir während der Arbeit einer besonderen Gefahr ausgesetzt. Der öffentliche Nahverkehr war schon immer lebenswichtig für München. In Zeiten der Klimakrise hat er eine noch viel größere Bedeutung.“
Alija findet, dass eine bessere Bezahlung in Zukunft nur gerecht wäre. Für Muzaffer Darici, 40, hat sich der Streik hingegen schon jetzt ausgezahlt. Darici kommt aus Hallbergmoos, von Beruf ist er Taxifahrer. „Heute Morgen von 6 bis 8 Uhr lief das Geschäft für mich super“, sagt er. „Ich hatte viele Aufträge. Zum Beispiel habe ich Kinder in die Schule gefahren. Trotzdem finde ich, so ein Streik muss nicht sein. Es herrscht in der früh schon Chaos, besonders auf den Straßen. Da steht man dann morgens schon ewig im Stau.“
Es war ein ereignisreicher Tag, über den noch länger gesprochen werden wird. Aber er endet mit einer guten Nachricht, zumindest für die Pendler: In dieser Woche soll es keine erneuten Streiks geben.