München – Als Bundesfinanzminister hat Theo Waigel (81) die Wiedervereinigung hautnah miterlebt. Im Interview erinnert sich der CSU-Ehrenvorsitzende an einen unvergesslichen Moment mit Willy Brandt, zieht einen Vergleich zur Französischen Revolution und erklärt, was Michail Gorbatschow und Boris Jelzin von Wladimir Putin unterscheidet.
Herr Waigel, es gibt ein Bild von der Feier der Deutschen Einheit 1990 …
… das stammt vom 2. Oktober. Es entstand vor dem Reichstag. Wir kamen von einem Festakt im Staatsschauspiel zur Verabschiedung der DDR. Da hat Kurt Masur die 9. Sinfonie dirigiert. Auch was Schönes: Am Tag der Deutschen die Europahymne! Wir sind dann zu Fuß zum Reichstag hinüber, wo um Mitternacht die Flagge gehisst wurde und die Hymne ertönte. Und so stehen wir um Mitternacht vor dieser Empore.
Richard von Weizsäcker, Helmut Kohl mit Frau, Hans-Dietrich Genscher, Willy Brandt, Sie.
Das war natürlich unglaublich bewegend. Hunderttausende standen da und hätten am liebsten vor Begeisterung den Reichstag gestürmt. Ich blieb am Ende noch, und dann waren wir nur noch zu zweit: Willy Brandt und ich. Und dann kam Willy Brandt auf mich zu, drückte mir die Hand, und Tränen rannen über sein Gesicht. Das war ungeheuer bewegend, weil ich sah, wie dieser Mann sich über die Einheit freute.
Ein Moment für die Ewigkeit.
Ja. Ein paar Wochen nach der Wiedervereinigung habe ich den Überleitungsvertrag unterschrieben, an meinem Namenstag. Das war der große Vertrag über den Abzug aller Sowjet-Truppen. Der erste völkerrechtliche Vertrag des wiedervereinigten Deutschlands, und den hat nicht der Außenminister unterschrieben, sondern der Finanzminister. Wenn man sich vorstellt, dass es uns gelungen ist, in dreieinhalb Jahren eine Million Sowjets, davon die Hälfte Soldaten, zehntausende Panzer, tausende Raketen und Atombomben von deutschem Boden wegzubringen.
Und das friedlich.
Ohne dass ein Schuss fällt! Das übertrifft bei Weitem die Französische Revolution. Ganz Deutschland umgeben von Partnern und Freunden. Ein Glücksfall wie nie zuvor in der jüngeren Geschichte.
Wann wurde die Einheit für Sie konkret?
Anfang September 1989 war ich in Banz auf einer Klausurtagung. Ein Journalist fragt mich: „Wie sieht’s um Deutschland aus?“ Und ich antworte lapidar: „Die deutsche Frage steht auf der Tagesordnung der Weltpolitik.“ Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was in den nächsten Tagen an Beschimpfungen über mich hereinbrach.
Das Thema stand noch nicht auf der öffentlichen Tagesordnung.
Wenige Tage später hatte ich ein Gespräch mit dem US-Präsidenten Bush. Da fragt er mich: „Theo, was sagst du einem jungen Deutschen, der dich nach der Zukunft fragt?“ Ich sagte ihm, ich glaube an die Deutsche Einheit. Und seine Antwort war: „Ich rechne bald damit.“ Unser engster Partner hat das realistischer gesehen als wir, die wir im Auge des Orkans waren.
Später gab es ein Treffen im Kaukasus, wo Michail Gorbatschow der Einheit seinen Segen erteilte.
Da muss ich eines sagen: Wir sind Gorbatschow zu unendlichem Dank verpflichtet. Ich kenne ihn gut, ich mag ihn. Er war ein Glücksfall für Deutschland, Europa und die Welt. Er hat erkannt, dass man nicht auf Dauer gegen die Freiheit der Menschen und Souveränität der Völker angehen kann. Und noch etwas hat er erkannt: die Schwäche der DDR.
1989 stand sie vor dem wirtschaftlichen Kollaps.
Das ist ein Punkt, den haben wir vielleicht zu wenig thematisiert. Wir hätten das Gutachten des DDR-Chefvolkswirts jedem Bürger zuleiten müssen. Es besagte: Spätestens 1991 sind wir zahlungsunfähig und machen uns zum Gespött der Welt. Wir müssen den Lebensstandard um 25 bis 30 Prozent absenken, um bestehen zu können.
Das wusste Gorbatschow.
In ihm und Außenminister Schewardnadse hat sich die Überzeugung gebildet, es wäre besser, mit einem wiedervereinigten Deutschland gute Beziehungen zu haben, als mit einem Teil-Deutschland zu leben, das man subventionieren müsste und das seine Bürger nur mit einer Mauer halten kann. Das Tolle ist, dass Gorbatschow in dieser Situation Helmut Kohl und George Bush mehr vertraut hat als einem Teil seiner eigenen Leute im Kreml.
Wie großzügig haben sich die Sowjets für ihre Zustimmung entlohnen lassen?
Mein erstes Angebot – dreieinhalb Milliarden D-Mark – war ihnen zu winzig. Am Ende sind wir bei zwölf Milliarden gelandet. Damals erschien mir das viel, aber wenn ich heute an die Summen denke, die für andere Dinge ausgegeben werden, glaube ich, dass wir gut davongekommen sind. Und Gorbatschows Nachfolger Boris Jelzin hat sich an alles gehalten, was vereinbart war.
Mit Putin wäre das nicht passiert.
Ganz sicher nicht. So wie er jetzt das Völkerrecht bricht, hätte er es damals auch getan. Wir haben Gorbatschow und auch Jelzin zu danken. Ich werde nie vergessen, wie mir der letzte sowjetische Oberkommandierende nach dem Abzug der Truppen den Schlüssel für das Hauptquartier in Karlshorst überreichte. Und dann sangen die russischen Soldaten auf Deutsch: „Deutschland, wir reichen dir die Hand und kehr’n zurück ins Heimatland. Die Heimat ist empfangsbereit, wir bleiben Freunde alle Zeit. Auf Frieden, Freundschaft und Vertrauen wollen wir unsere Zukunft bauen.“
Einige der wichtigsten Weichenstellungen – Währungsunion oder Treuhand – fielen in Ihre Zuständigkeit. Würden Sie heute etwas anders machen?
Insgesamt war das Konzept richtig. Die Treuhand haben wir schon von der DDR übernommen. Die Konzeption von Detlef Rohwedder – privatisieren, wo es geht, sanieren, wo es sinnvoll ist, und liquidieren, wo es nicht anders geht – war notwendig und richtig. Man muss den Menschen mal klipp und klar sagen, wie es um die Unternehmen in der DDR bestellt war. Die hätten in den nächsten Monaten und Jahren nicht überlebt. Und ein Produkt wie den Trabi, den niemand mehr kauft, den kann ich auch mit Subventionen nicht weiterführen.
Haben Sie das Gefühl, dass der wirtschaftliche Aufschwung bei den Bürgern angekommen ist?
66 Prozent der Menschen in den neuen Bundesländern betrachten ihre wirtschaftliche Situation heute als gut. 80 Prozent stehen der Demokratie positiv gegenüber. Und was oft völlig untergeht: Das durchschnittlich verfügbare Einkommen liegt bei etwa 86 Prozent des Niveaus in den alten Ländern. Das ist weiß Gott nicht schlecht.
Das sind die Zahlen. Welche Botschaft steckt darin?
Das ist eine großartige Leistung der Ostdeutschen, die viel haben mitmachen müssen. Aber auch des ganzen Deutschlands. Schließlich haben wir dafür in den vergangenen 30 Jahren mehr als zwei Billionen Euro aufgewendet. Trotzdem stehen wir besser da als fast alle Nachbarn. Wir haben allen Anlass, zurückzuschauen, dem Herrgott und dem Schicksal zu danken und ein bisschen stolz darauf zu sein, was die Deutschen erreicht haben.
Wie bewerten Sie heute Kohls Ankündigung blühender Landschaften?
Wenn man wie ich 1985 durch die DDR gereist ist, dann war der Zustand grauenhaft. In den Städten konnte man nur schwer atmen, so hat die Braunkohle auf die Bronchien gedrückt. Es war Grau in Grau. Man müsste den Menschen die Aufnahmen von früher zeigen. Und wenn ich mir heute Städte wie Leipzig oder Dresden anschaue, dann ist das doch einfach begeisternd. Es ist ein ungeheurer Fortschritt. Die Lebenszeit ist länger, die Gesundheit besser, die Suizidrate deutlich gesunken. Im Vergleich zu 1985 oder 1989 sehe ich heute viele blühende Landschaften.
Aber sie müssen weiter gepflegt werden?
Es liegt noch eine jahrelange Arbeit vor uns. Ich denke da immer an einen Vers des Schriftstellers Reiner Kunze über die Mauer: „Als wir sie schleiften, ahnten wir nicht, wie hoch sie ist in uns.“ Das haben wir vielleicht unterschätzt, was es auch an persönlichen Belastungen gegeben hat, was die Menschen in der DDR ausgehalten haben.
Wie geeint sind Ost und West heute?
Das ist ein stetiger Prozess, der noch nicht zu Ende ist. Da ist noch einiges zu tun, auch an Wertschätzung und Respekt vor der Lebensleistung der Menschen drüben. Sie sind unter Lebensgefahr auf die Straße gegangen und haben für die Wiedervereinigung gekämpft. Das sollten wir nicht vergessen. Die Last, die sie so lange tragen mussten. Das haben wir vielleicht zu wenig realisiert.
Können Sie verstehen, dass sich manche als Verlierer der Wende fühlen?
Das sind aber nur wenige. Wer natürlich im Bereich der SED-Nomenklatura gearbeitet hat, bei dem kann ich mir vorstellen, dass es da Verlierer gegeben hat. Verlierer gibt es in einer freien Demokratie immer. Überall. Darum haben wir in Deutschland ein soziales System, und darum sind auch 70 Prozent der Aufwendungen der Einheit in das soziale Umfeld geflossen. In direkte Hilfen für die Menschen, in Renten und Gesundheitsvorsorge, in die Infrastruktur, die allen zugute- kommt. Man muss jedes Schicksal ernst nehmen. Aber insgesamt glaube ich nicht, dass es viele gibt, die die Zeit vor 1989 herbeisehnen.
Steckt in den Klischees von „Jammer-Ossi“ und „Besser-Wessi“ ein Körnchen Wahrheit?
Besser-Wessis hat es schon gegeben. Die sind nicht immer so bescheiden aufgetreten, wie es wünschenswert gewesen wäre. Auf der anderen Seite muss man sehen: Wir hatten in Ostdeutschland kaum qualifizierte Juristen, kaum Betriebswirte oder gut ausgebildete Volkswirte, weil das in der Planwirtschaft nicht notwendig war. In diesen Bereichen – Wirtschaft, Bilanzen, Rechnungslegung – gab es ein Defizit, das mit Westdeutschen ausgeglichen wurde.
In Teilen Ostdeutschlands tun sich die Volksparteien schwer. Welche Rolle spielt die Wiedervereinigung?
Darüber muss man sehr, sehr ernst nachdenken. Auf der anderen Seite muss man sehen, welche Parteien wir nach 1945 hatten. Machen wir uns mal nichts vor: Wenn 1949 die NSDAP hätte kandidieren dürfen, dann wäre sie ganz sicher nicht unter fünf Prozent gefallen. Es gibt ein linkes und rechtes Protestpotenzial, einen Kern von Unzufriedenen. Und dann auch immer wieder, in der Geschichte eines jeden Volkes, einen gewissen Rückfall in Nationalismen. Nach dem Motto: Wir könnten es am besten allein.
Was ist für Sie der größte Gewinn, den die Einheit hervorgebracht hat?
Die Freiheit und dass niemand für die Ausübung seiner Freiheit Angst haben musste, ins Gefängnis zu kommen. Das Größte für mich persönlich ist, dass diejenigen, die sich zu ihrer Religion und Überzeugung bekannten und dafür missachtet wurden, die nicht zur Jugendweihe gegangen sind, am Ende Gerechtigkeit erfahren haben. Das sind vielleicht Einzelschicksale. Aber das sagt etwas aus über eine ganze Gesellschaft.
Interview: Marc Beyer