München – Bald ist Schluss mit dem ewigen Eis. Noch gibt es fünf Gletscher in Deutschland, alle in Bayern (siehe Randspalte). Einer von ihnen wird aber schon bald verschwunden sein, zwei weitere werden noch in den kommenden zehn Jahren schmelzen, sagt Gletscher-Experte Wilfried Hagg, 48. Der Geowissenschaftler und Glaziologe von der Hochschule München beschäftigt sich seit 15 Jahren mit den deutschen Gletschern. Im Interview erzählt er, wie stark sie sich allein in dieser Zeit verändert haben – und welche Bedeutung Gletscher für uns haben.
Wird es bald keine Gletscher mehr in Bayern geben?
Das ist nur noch eine Frage der Zeit. Die fünf Gletscher in Bayern sind schon stark geschrumpft. Während der Kleinen Eiszeit, die ja Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt gehabt hat, waren sie noch deutlich größer. Gletscher entstehen normalerweise dort, wo im Jahr mehr Schnee fällt als abschmilzt. Das ist in den bayerischen Alpen schon lange nicht mehr so. Aus klimatologischer Sicht sind die Gletscher dem Untergang geweiht.
Daran kann man nichts mehr ändern?
Selbst wenn der Klimawandel plötzlich gestoppt werden könnte, würde das jetzige Klima ausreichen, um die Gletscher verschwinden zu lassen.
Wann wird der letzte Gletscher verschwinden?
Es ist schwierig, das zu prognostizieren. Man kann aber sagen: Mitte des Jahrhunderts werden wir in Deutschland keine Gletscher mehr haben. Im Moment gibt es noch zwei größere und drei kleinere. Die drei kleinen Gletscher werden wahrscheinlich noch in diesem Jahrzehnt das Zeitliche segnen.
Wie sahen die Gletscher aus, als sie vor 20 Jahren mit ihrem Beruf angefangen haben?
Den Vernagtferner in Österreich kenne ich jetzt am längsten. Und der hat sein Aussehen schon dramatisch verändert. Vor 20 Jahren war er noch eine einzige Eismasse – inzwischen ist der Gletscher in mehrere Teile zerfallen. Mit den deutschen Gletschern beschäftige ich mich seit 15 Jahren. Auch da bin ich jedes Mal baff: Damals hatten die bayerischen Gletscher eine Gesamtmasse von 85 Hektar. Mittlerweile hat sich die Fläche halbiert. Oft erkenne ich gewisse Stellen gar nicht mehr wieder.
Welche Folgen hat das Schmelzen der Gletscher?
Das hätte in erster Linie lokale Folgen: Naturgefahren können zunehmen, weil es zum Beispiel dort, wo Gletscher Berge stützen, zu Felsstürzen kommen kann. Um den Gletscher herum gibt es außerdem besondere Lebensräume für Pflanzen und Tiere, die dann verschwinden. Man muss auch bedenken, dass man einen wertvollen Landschaftsbestandteil verliert. Gletscher sind touristische Magnete. Und regional gesehen sind Gletscher wichtig, weil sie Wasser speichern. Sie wirken sich auf die Wasserversorgung aus – in Deutschland ist das vielleicht nicht so relevant. Aber in anderen Regionen, wo die Gebirge von Trockengebieten umgeben sind – zum Beispiel in Zentralasien – braucht man Gletscherwasser für die Bewässerung in der Landwirtschaft.
Und was passiert dann mit Ihrem Job?
Ich hab schon ausgerechnet: Die bayerischen Gletscher halten ziemlich genau bis zu meiner Rente.
Bis dahin haben Sie noch viel Zeit zum Forschen. Was genau machen Sie auf einem Gletscher?
Wir bohren zum Beispiel ins Eis und messen die Schmelzraten in verschiedenen Höhen. Auf manchen Gletschern bilden sich auch Schuttschichten – dann untersuchen wir, wie diese sich entwickeln und die Gletscherschmelze verändern.
Ist das gefährlich?
Bei vielen Gletschern sollte man über alpinistische Kenntnisse verfügen, wenn man sie betritt. Es gibt zwar auch kleinere, wo bedenkenlos jeder draufgehen kann. Aber in steileren Gebieten braucht man entsprechende Ausrüstung. Vor allem Gletscherspalten sind gefährlich, wenn sie zum Beispiel von einer dünnen Schneeschicht bedeckt sind.
Was fasziniert Sie an Gletschern?
Gletscher machen den Klimawandel greifbar. Sie zeigen uns keine Wetterveränderungen an, reagieren nicht auf einen heißen Monat oder ein heißes Jahr. Gletscher zeigen uns nur den langfristigen Klimatrend an. Und in diesem Fall sogar vor der eigenen Haustür, und nicht in irgendwelchen weit entfernten Regionen.
Also ein Mahnmal für den Klimawandel. Sind wenigstens die Gletscher in Grönland oder der Antarktis noch zu retten?
Ob die Kipppunkte da schon erreicht sind, ist noch nicht ganz klar. Aber das sind ganz andere zeitliche Maßstäbe. Es dauert Jahrtausende, bis die großen Gletscher Grönlands und der Antarktis vollständig verschwunden sind. Noch kann man Schlimmeres verhindern, wenn man die Klimaerwärmung in Grenzen hält.
Interview: Kathrin Braun