Corona: Die umstrittene Herdenimmunität

von Redaktion

Risiko-Strategie oder gangbarer Weg: Auch Experten sind sich nicht immer einig in dieser Frage

München – „Ein gefährlicher Irrtum“: So bezeichnen namhafte Wissenschaftler weltweit die Strategie der Herdenimmunität im Kampf gegen Covid-19. In einem offenen Brief, den jetzt die renommierte Fachzeitschrift „The Lancet“ veröffentlicht hat, warnen sie eindringlich vor den Folgen. Zugleich werden aber auch zahlreiche Gegenstimmen laut – man müsse kontrollierte Infektionen zulassen, um eine gezielte Durchseuchung der Bevölkerung voranzutreiben. Dabei sollten nur Risikogruppen geschützt werden.

In der Tat steigt die Zahl der Menschen, die sich mit dem Coronavirus infizieren, wieder stetig an – auch in Deutschland. Anders als im Frühjahr ist diese Entwicklung jedoch kaum noch mit einzelnen regionalen „Hotspots“ zu erklären; vielmehr lässt sich eine zunehmend flächendeckende Verbreitung beobachten. Aktuell sind es vor allem Jüngere, die sich mit Sars-CoV-2 anstecken – meist auf ausschweifenden Privatfeiern.

Experten warnen vor allem bei jüngeren Menschen vor einer „weitverbreiteten Demoralisierung und schwindendem Vertrauen“ als Folge der Beschränkungen, die in vielen Ländern, auch bei uns, aufgrund steigender Infektionszahlen wieder eingeführt werden. Auch Wissenschaftler wie der Virologe Prof. Hendrik Streeck sprechen sich für mehr Eigenverantwortung aus und räumen Risikogruppen höchste Priorität ein: „Wir sollten uns viel mehr darauf konzentrieren, wie wir die Risikopatienten besser schützen können“, sagt Streeck. Er habe deutlich mehr Sorge davor, dass nach einem Corona-Ausbruch in einem Altersheim plötzlich 50 Menschen im Krankenhaus behandelt werden müssen, als dass sich 150 junge Partygänger infizieren – und nur milde Symptome zeigen.

Streeck räumt allerdings auch ein, dass sich Infektionen von Risikogruppen nicht komplett verhindern ließen. Zuletzt irritierte er einige Zuschauer mit einer Aussage in der ARD-Sendung „Maischberger“: „Ich finde es müßig, über Todesfälle zu reden“, erklärte Streeck. „Es geht ja nicht um Todesfälle, sondern es geht darum, dass wir das Virus so weit kontrollieren, dass wir insgesamt Schäden aller Art verhindern.“ Er betonte wiederholt, dass in Zukunft nicht nur die Zahl der Neuinfektionen zur Einschätzung der Situation berücksichtigt werden solle – entscheidend sei vielmehr die Zahl der schweren Verläufe.

Deshalb schlägt Streeck ein sogenanntes Ampelsystem vor, was auch der Münchner LMU-Professor Franz-Xaver Reichl befürwortet. Der Biologe ist Corona-Experte unserer Zeitung. Er sagt: Zur Einschätzung des Ansteckungsrisikos spiele nicht nur der Reproduktionswert eine Rolle, sondern auch andere Parameter – etwa die verfügbare Anzahl der Intensivbetten in einem Gebiet. Der Reproduktionswert gibt an, wie viele Menschen ein Erkrankter im Schnitt mit dem Virus ansteckt. Aktuell liegt er bei leicht über 1, sprich: Ein Infizierter steckt im Schnitt eine weitere Person an.

Unterdessen weisen die im „The Lancet“ zitierten Wissenschaftler mehrfach darauf hin, dass bestimmte Risiken nicht unterschätzt werden dürften – insbesondere im Hinblick auf eine Herdenimmunität, die womöglich gar nie erreicht werden könne: Denn bislang gebe es keine Beweise für eine dauerhafte Immunität nach einer durchgestandenen Covid-19-Erkrankung. Es werden immer mehr Fälle von Zweitinfektionen gemeldet; vor allem Menschen, deren Symptome zunächst mild ausfielen, scheinen vor einer erneuten Infektion weniger geschützt.

Zudem, so die Wissenschaftler weiter, berge eine unkontrollierte Übertragung unter Jüngeren stets die Gefahr einer höheren Sterblichkeit in der gesamten Bevölkerung. Abgesehen davon würde dieses Vorgehen auch die Fähigkeit des Gesundheitssystems überfordern, heißt es. Und: Eine längere Isolation Älterer, die zweifelsohne durch Covid-19 besonders stark gefährdet sind, sei de facto unmöglich – und auch höchst unethisch.

Experten hierzulande warnen ebenso vor einer solchen Strategie, unter anderem Prof. Reichl. Er wendet sich daher bewusst an die junge Bevölkerung – und sagt: „Ich appelliere jetzt an Ihre Vernunft!“ ANNA TRATTER

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