Murnau – Für Sieglinde Tausend sind die drei vergilbten Blätter Papier echte Schätze – und bis heute bewahren sie ein Rätsel, das die 86-Jährige aus Murnau im Kreis Garmisch-Partenkirchen nicht lösen kann. Die drei Briefe aus dem Jahr 1944 hat sie sorgsam in Klarsichtfolie verpackt. Immer wieder kramt sie die alte Feldpost hervor und liest die an die „Liebe kleine Sieglinde“ adressierten Zeilen erneut.
Neun Jahre war sie alt, als das NS-Regime mitten im Zweiten Weltkrieg die Bevölkerung aufrief, die Frontsoldaten mit Briefen und Paketen bei Laune zu halten. Sieglinde Tausends Pflegemutter strickte daraufhin eifrig aus aufgetrennter Wolle Mützen, Stirnbänder und Handschuhe für die Soldaten und packte sie mit etwas Gebäck in ein Paket. Ihrer Pflegetochter, die geschickt mit dem Füllfederhalter war, gab sie den Auftrag, ein paar Zeilen dazu zu formulieren. „Ich muss zugeben, ich war etwas altklug damals. Aber ich habe gern geschrieben. Meine Aufsätze in der Schule waren immer zu lang“, sagt Sieglinde Tausend.
Schreiben für die Moral
Brief- und Paketaktionen wie diese haben Nationalsozialisten während des Krieges mehrfach initiiert, erklärt Historiker Christian Packheiser vom Institut für Zeitgeschichte. „Am bekanntesten ist die Aktion ,Briefe an einen unbekannten Soldaten‘, bei der vor allem junge Frauen aus dem Bund Deutscher Mädels animiert wurden, an die Front zu schreiben.“ Diese von der Partei geförderte Kontaktaufnahme führte so weit, dass bei Heimaturlauben der Soldaten sogar Tee-Nachmittage veranstaltet wurden, um die Frontkämpfer zu verkuppeln. „Das kann man sich wie das heutige Speed-Dating vorstellen“, sagt Packheiser. Es sei aber kein Einzelfall, dass auch Kinder wie Sieglinde Tausend solche Briefe verfassten. Teils wurden sogar mehrere Brieffreundschaften parallel geführt. „Damit sollte die Moral an der Front gestärkt werden“, sagt Packheiser. Denn je länger die Soldaten, besonders nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion 1941, an der Front ausharren mussten, desto stärker entfernte sich die Lebenswelt der Soldaten vom Alltag im Heimatland. „Die Briefe und Pakete haben sich dabei als überraschend effektiv erwiesen, um den Zusammenhalt zu stärken.“
Was Sieglinde Tausend in ihrem ersten Brief schrieb, daran kann sie sich nicht erinnern. Aber das Antwortschreiben des Soldaten namens Hans Zürner vom 27. Februar 1944 hat sie bis heute. Darin dankt er ihr für ein beigefügtes Enzian-Blümchen. „So etwas gibt es bei uns in Berlin nicht, und hier auf der Krim erst recht nicht“, schreibt er. Überhaupt sei er in einer ganz öden Steppengegend stationiert, in der sich die Füchse „Gute Nacht“ sagen. Da sei es bei ihr am Staffelsee und im Gebirge, das er nur aus dem Urlaub kenne, sicher deutlich schöner. Am Ende schickt ihr der Obergefreite noch Luftpostmarken mit, falls ihm die junge Brieffreundin weiter schreiben möchte. Und das tat sie.
„Ich habe mich so darüber gefreut, dass da jemand persönlich an mich schreibt. So ausführlich und kindgerecht“, sagt sie heute. Sie glaubt, Hans Zürner sei für sie damals eine Art Vaterersatz gewesen, nachdem ihr Vater früh an Tuberkulose gestorben war. Ein emotionaler Anker neben der Pflegemutter, die zwar gut zu ihr gewesen sei, aber auch sehr streng.
Die Gräuel des Krieges erwähnt Zürner in seinen Briefen kaum. Er habe inzwischen viel „durchgemacht“, notiert er lediglich. Stattdessen beschreibt er im Oktober 1944, wie die Soldaten sich an einen Kachelofen gesetzt hätten, der bereits „eine wohlige Wärme“ ausstrahle. „Nun kann der Winter kommen.“ Auch ein Foto von der Front schickt er mit.
Die letzte Feldpost
Sieglinde Tausend war zu diesem Zeitpunkt bereits zehn Jahre alt. Und Hans Zürner kündigte in dem Brief an, ihr im nächsten Jahr unbedingt gratulieren zu wollen, schließlich habe er am 30. Juni und damit zur selben Zeit Geburtstag. Doch das Versprechen löst er nicht ein. Die Feldpost vom Oktober 1944 sollte die letzte sein, die Murnau erreicht.
Mit dem Kriegsende verbindet Sieglinde Tausend, die zuvor von ihrer Lehrerin mit dem Rohrstock auf die Hände geschlagen wurde, weil sie bei einem zufälligen Treffen beim Bäcker den Hitlergruß vergessen hatte, vor allem eins. „Es war die erste Nacht, in der ich wieder durchschlafen konnte.“ Für sie begann ein neues Leben, zunächst für viele Jahre in den Vereinigten Staaten, später zurück in Murnau. Doch Hans Zürner ließ sie nie völlig los. Die Frage, ob er den Krieg überlebt hat, beschäftigt sie auch heute noch, mit 86 Jahren. Eine Antwort darauf hat sie nie bekommen. Doch auch so gibt ihr der Blick in die Briefe noch immer die Erinnerung an ein wenig Geborgenheit in einer düsteren Zeit.