Berchtesgaden – Es ist keine schöne Nachricht, die die Hoteliers zu überbringen haben. „All unsere Gäste müssen heute abreisen“, sagt der Sprecher eines Hotels in Berchtesgaden. Es ist Dienstagvormittag. Bis 14 Uhr müssen die Taschen gepackt sein. Denn der oberbayerische Landkreis Berchtesgadener Land mit seinen rund 106 000 Einwohnern hat einen unschönen Rekord aufgestellt: Er ist Deutschlands Corona-Hotspot Nummer eins. Die Zahl der Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen (Sieben-Tage-Inzidenz) stieg bis auf 272,8. Am Dienstag sinkt sie auf 236, liegt aber immer noch weit über dem Schwellenwert 50. Die meisten Gäste würden die Situation verstehen, sagt der Sprecher.
Kern: Lage ist „diffus“
Christoph Ramsauer betreibt in Berchtesgaden Ferienwohnungen. Er muss ein älteres Paar ausquartieren. „Sie waren etwas überrumpelt, dachten zunächst, dass nur Hotels betroffen seien“, sagt er. Das Pärchen wollte noch elf Tage in Berchtesgaden urlauben. Stattdessen geht es zurück nach Duisburg. Von Bayerns Staatskanzleichef Florian Herrmann (CSU) bekommen die Urlauber noch den Rat mit, sich sicherheitshalber testen zu lassen. Vielleicht kein schlechter Rat. Eine Beamtin der Staatskanzlei Mecklenburg-Vorpommern ist an Corona erkrankt – vermutlich nach einer Reise ins Berchtesgadener Land. Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) habe keinen Kontakt zu der Beamtin gehabt, hieß es.
Der Markt von Berchtesgaden, sonst gut bevölkert, ist schon am Vormittag nahezu verwaist. In der Fußgängerzone frühstücken nur wenige Besucher in der Sonne. Der kleine Lockdown hat sich schnell herumgesprochen. Die Geschäfte sollen geöffnet bleiben. Das hat Landrat Bernhard Kern, CSU, versprochen. Shopping ohne Touristen? „Für uns bedeutet das zwei einschneidende Wochen“, sagt eine Verkäuferin eines Modegeschäfts, die anonym bleiben will. Sie rechnet mit deutlichen Umsatzeinbußen. „50 Prozent und mehr.“
Zwei Wochen lang darf man nur aus triftigem Grund das Haus verlassen – Arbeiten, Einkaufen, Sport im Freien. „Ich mache heute Großeinkauf“, sagt Elisabeth Irlinger. „Damit der Kühlschrank voll ist.“ Die ältere Dame trägt eine Tüte in der Hand. Dass nun alles heruntergefahren wird, sei zwar traurig, aber: „Das kenne ich ja schon vom Frühjahr her.“ Auch im Biergarten im Gasthaus „Neuhaus“ laufen die Vorbereitungen. „Um 14 Uhr machen wir dicht“, sagt ein Mitarbeiter.
Die neuen Regeln gelten vorerst bis 2. November. Bis dahin hofft Landrat Kern, die Infektionszahlen im Griff zu haben. Erst seit wenigen Monaten ist er im Amt. Die Ankündigung der Beschränkungen brachte ihm in den sozialen Medien unfreundliche Kommentare ein. Kindergärten müssen schließen, Schulen ebenso. Viele Eltern brauchen jetzt auf die Schnelle eine Betreuung.
Warum die Infektionszahlen ausgerechnet im Landkreis Berchtesgadener Land nach oben geschossen sind – die Behörden halten sich mit Aussagen zurück. Kern spricht gestern von einem „diffusen Infektionsgeschehen“. Manche spekulieren, dass die lokale Welle von einer Geburtstagsfeier mit hundert Gästen ausging. Dem widerspricht der Landrat. Eine einzelne Feier sei es nicht gewesen. Andere vermuten, dass das Virus vom Nachbarort Kuchl in Österreich eingeschleppt wurde – Kuchl steht wegen hoher Zahlen unter Quarantäne. Einheimische halten das für unwahrscheinlich – es gebe kaum Pendler.
Auf den Straßen herrscht am Dienstagvormittag noch viel Verkehr – Aufbruchstimmung bei denen, die abreisen müssen. Bei zwei großen Lebensmittelmärkten unweit des Bahnhofs sind die Stellplätze knapp. Klopapier gibt es noch, anders als im Frühjahr. Die Kunden wirken entspannter als damals, auch wenn ihnen die hohen Infektionszahlen im Landkreis zu schaffen machen. „Man muss schon auf sich aufpassen“, sagt Kunde Stefan Kastner.
Dieter Schönwälder leitet den Rewe-Einkaufsmarkt. Er sagt: „Die Leute kaufen normal ein. Es mangelt an nichts. Nur die Touristen, die von heute auf morgen abreisen müssen, fehlen uns.“ Auch eine letzte Fahrt auf dem Königssee fällt aus. Die Schifffahrt hat den Betrieb eingestellt, ebenso die Berchtesgadener Bergbahn. 400 000 Gäste brachten die Bootsführer in dieser Saison über den Königssee. Deutlich weniger als die Jahre zuvor. Da waren es rund 700 000. „Wir sind aber zufrieden. Wer uns im März prophezeit hätte, dass wir solche Zahlen vorweisen, dem hätte ich nicht geglaubt“, sagt Michael Grießer, Geschäftsführer der Bayerischen Seenschifffahrt.
Zwei Intensivfälle
Berchtesgaden und seine Nachbargemeinden Schönau am Königssee, Ramsau und Bischofswiesen gelten beim Tourismus als Zugpferde des Landkreises. Die Gästezahlen liegen bei rund 800 000 im Jahr. 3,6 Millionen Übernachtungen vermeldet die Berchtesgadener Land Tourismus (BGLT) für 2019. Mit dem Königssee, dem Jenner und dem Salzbergwerk vereinen sich hier die beliebtesten Ausflugsziele in der Region. Auch hier geht nun nichts mehr.
Herbe Einschnitte, die unverhofft kommen. „Wir bremsen von hundert auf null“, sagt BGLT-Geschäftsführerin Brigitte Schlögl. Geplant war, das Wintergeschäft zu forcieren. Nun stehen der Berchtesgadener Adventsmarkt und das beliebte Kramperl- und Buttnmandllaufen auf der Kippe. „Der Imageschaden ist groß, die Situation wird uns nicht unbeschadet lassen“, sagt Schlögl.
Der Bayerische Hotel- und Gaststättenverband spricht von einem „schmerzhaften Schlag“. Präsidentin Angela Inselkammer kritisiert, dass alle Urlauber abreisen mussten. Die Hotels hätten funktionierende Hygienekonzepte. Nun müsse man alles daransetzen, dass „aus dem Lockdown kein Knockout für unsere Branche wird“.
Im Krankenhaus Berchtesgaden hat das Coronavirus noch keine Notlage ausgelöst. Laut Kern wurden dort gestern zwölf Personen wegen Corona behandelt, zwei davon auf der Intensivstation.