„Das wird eine verdammt lange Zeit“

von Redaktion

VON CHRISTIAN DEUTSCHLÄNDER UND HANS MORITZ

München/Berlin – Die Kanzlerin hat einen Stapel Papier vor sich, und phasenweise wirkt sie unkonzentriert, ermattet. Blatt für Blatt liest sie ab, legt eins links, eins rechts hin. Manche Worte kommen Angela Merkel schwer über die Lippen. „Diskotheken“ zum Beispiel, oder „Bäder und Themen“, sie meint Thermen. „Private Feiern“, sagt sie an einer Stelle und kommt ins Stocken, „sind inakzeptabel“.

Selbst im Alltag einer Regierungschefin ist das ein besonderer Auftritt, ein besonders schlimmer jedenfalls. In einer halbstündigen Pressekonferenz am Mittwochabend verkündet Merkel dem Land, dass es einen neuen wochenlangen Lockdown geben wird. Sie ahnt, dass draußen das Verständnis für diesen Schritt geringer ist als im Frühjahr, dass Menschen akut um ihre Existenz fürchten. Sie bemüht sich deshalb um eine einfache, eindringliche Sprache. „Wir müssen handeln. Jetzt. Die Kurve muss wieder abflachen.“

Knapp fünf Stunden Debatte liegen hinter Merkel, eine Videokonferenz mit den 16 Ministerpräsidenten. Zwei davon sitzen jetzt neben ihr, rechts der Berliner Michael Müller (SPD), links der Bayer Markus Söder. Eine ernste, traurige Veranstaltung ist das. „Das ist mir sehr schwer gefallen heute“, sagt Müller graugesichtig, ein schwerer Weg. „Eine verdammt lange Zeit“ seien die geplanten vier Wochen Lockdown. Söder sagt düster, das sei „ein Tag, an den wir uns noch lange erinnern werden“.

Es ist auffällig, dass Söder und Merkel sich jedes Signal des Triumphs verkneifen. Eigentlich haben sie sich spektakulär durchgesetzt. Schon vor zwei Wochen hatten sie versucht, die Länder auf eine klare, harte Linie zu bringen, damals vergeblich. Jetzt, unter dem Eindruck massiv gestiegener Corona-Fälle, bringen sie ihre Maßnahmen fast 1:1 durch. Nur in Details entscheidet sich der Beschluss der Runde von dem, was das Kanzleramt vorab vorlegte.

Ob ein Kunde im Laden auf 10 oder auf 25 Quadratmeter kommt, das wurde noch verhandelt. Die Grundlinie aber hält: Schulen, Kitas und Einzelhandel bleiben offen, dafür werden Gastronomie, Tourismus, Kultur, Sport und Freizeit radikal runtergefahren. Ab 2. November gilt all das, sogar noch zwei Tage früher, als Merkel anpeilte, und bundesweit unabhängig von allen Infektionszahlen. Einen „differenzierten Lockdown“ nennt Söder das tatsächlich.

Details aus der Runde sind diesmal deutlich spärlicher bekannt. Man weiß, dass Thüringen sich lange querstellte, weil dort geringe Inzidenzen herrschen. „Es machen alle mit“, verkündet Merkel am Ende, das ist aber in Wahrheit nicht gewiss. Das Links-regierte Bundesland hat sich eine lange Fußnote ins Beschlusspapier verhandelt – Tenor: Wir machen nur das mit, was „geeignet und verhältnismäßig“ ist. Also vielleicht nur ein bisschen was.

Nach zwei Wochen will die Runde wieder tagen und nachsteuern. Nach vier Wochen soll der November-Lockdown dann enden. Ein genaues Ziel ist nicht benannt, Merkel, Müller und Söder weichen auf Nachfrage aus. Man müsse die Kontakte um drei Viertel reduzieren, heißt es nur. Und Söder warnt davor, zu früh aufzuhören: „Wir verordnen eine Vier-Wochen-Therapie. Wir hoffen, dass die Dosis richtig ist.“ Man werde „Corona trotzen“, sagt er dann noch, „es gibt auch ein Morgen“.

Dieses Morgen dürfte freilich auch für die Politiker ungemütlich werden. Denn im Land ist umgehend ein Sturm an heftigen, zornigen Reaktionen losgebrochen. Verbände aller Art melden sich erbost, das war erwartbar. Aber machen die bisher willigen und regeltreuen Bürger noch im bisherigen Ausmaß mit? Der Lockdown trifft alle Lebensbereiche, Vereine, Sportler, alle Familien, die in diesem verkorksten Jahr einen Herbst-Urlaub ganz brav im Inland geplant hatten.

Söder spürt den Gegenwind nun auch in den eigenen Reihen – zum ersten Mal in acht Monaten Corona-Politik. Sobald am Dienstagabend die ersten Lockdown-Pläne durchsickern, melden sich besorgte und verärgerte Parteifreunde. Viele wenden sich an ihn, schreiben SMS, so ist zu hören, warnen, mahnen, geben zu bedenken. Söder antwortet stets, aber lenkt nicht ein.

Es sind kreuzbrave, erfahrene CSUler, die auch am Mittwoch Alarm schlagen, weil sie Protest ihrer Bürger abbekommen. Martin Bayerstorfer zum Beispiel, der Erdinger Landrat, stellt sich frontal gegen den Lockdown. „Wir haben keinerlei Hinweise, dass es an belebten Plätzen oder in der Gastronomie zu Ansteckungen gekommen ist.“ Bayerstorfer verlangt, erst mal abzuwarten, ob die Verschärfungen der letzten Runde wirken. „Die Maßnahmen können nur wirken, wenn in der Bevölkerung Akzeptanz vorhanden ist. Und die sinkt gerade extrem.“

Auch in der Jungen Union, die Söder einst mit Markus-Schildern ins Amt klatschte, glühen die Drähte. Die Bezirkschefs von Ober- und Niederbayern melden sich mit Protest zu Wort; nicht fundamental, aber vor allem gegen die Gastro-Schließung. So würden „unkontrollierte Feiern in den eigenen vier Wänden“ gefördert. Man dürfe nicht pauschal alle Regionen, Einrichtungen und Gewerbe über einen Kamm scheren, sagt der Oberbayer Daniel Artmann. Es müsse „die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden“. Selbst in der CSU-Landtagsfraktion, bisher treu ergeben, rührt sich Murren.

Söder gibt inhaltlich kaum nach, aber eine spektakuläre Wende legt er hin: Erstmals darf der Landtag mitreden. Für den Freitag ruft er die Abgeordneten zu einer Sondersitzung zusammen, um darüber abstimmen zu lassen, wie Bayern die Berliner Pläne umsetzt. Ein unverbindliches Votum zwar, weil rechtlich nicht anders möglich, aber wenigstens moralisch bindend. Das ist neu, das gab es nie seit März – auch ein Entgegenkommen an die Freien Wähler, den Koalitionspartner. Es dürfte eine lebhaftere Sitzung werden als die traurige Merkel-Runde in Berlin.

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