München – Die Soziologen Thorsten Benkel (43) und Matthias Meitzler (34) lehren an der Universität Passau – und befassen sich seit Jahren mit dem gesellschaftlichen Wandel rund um den Tod und die Trauerkultur. Für ihre Forschung besuchten Sie weit über tausend Friedhöfe und analysierten rund 70 000 Gräber. Sie verfassten zahlreiche Bücher zum Thema (www.friedhofssoziologie.de). Ein Gespräch über den Wandel auf den Friedhöfen.
Können Sie noch einen Friedhof besuchen, ohne nach ausgefallenen Grabsteinen zu schauen?
Meitzler: Eigentlich nicht. Wir haben 1139 Friedhöfe allein im deutschsprachigen Raum untersucht. Da lässt sich das Professionelle vom Privaten nicht mehr so leicht trennen. Als Soziologen interessieren wir uns allerdings nicht nur für ausgefallene Gräber, sondern für den Friedhof insgesamt.
Was erforschen Sie?
Benkel: Im Mittelpunkt steht die Frage: Was kann man über Gesellschaft lernen, wenn man sich Friedhöfe und ihre Gräber anschaut? Da geht es auch um Wandlungsprozesse: Wie verändern sich Gräber in Gestalt und Funktion? Warum gibt es eine bestimmte Grabart ausgerechnet auf diesem, aber nicht auf einem anderen Friedhof?
Werden Sie manchmal schief angeguckt?
Meitzler: Die meisten Menschen reagieren mit Interesse, wenn sie erfahren, was wir tun. Auch Bestatter und Friedhofsmitarbeiter. Zwar haben wir unterschiedliche Perspektiven auf das selbe Thema, aber in vielen Fällen können wir voneinander lernen. Wir haben auch über 150 Interviews mit Trauernden geführt. Da ist unsere Rolle manchmal schwierig. Da geht es immer um Verlust. Wir bekommen Briefe wie: „Meine Mutter ist schwer krank, die möchte lieber ein Diamant werden, wie können wir das umsetzen?“ Es gibt auch mal Tränen am Telefon. Da kann man nicht immer abschalten: Wir sind ja keine Roboter.
Wie hat sich die Friedhofskultur verändert?
Meitzler: Die Gräber werden tendenziell kleiner und pflegeleichter. Prunkgräber, die den sozialen Status der Verstorbenen und ihrer Familien signalisieren sollen, sind schon länger aus der Mode. Selbst viele Prominente haben nur noch eine bescheidene Rasenplatte. Gleichzeitig werden Gräber individueller und brechen aus der Reihenhausoptik aus, die die Grabfelder bis in die 1980er-Jahre geprägt hat.
Wie kommt es zum Trend des Individuellen?
Benkel: Früher war Trauer ein kollektives Ereignis. Wenn vor 70 Jahren im Dorf mit 500 Einwohnern jemand starb, waren 450 auf der Beerdigung. Heute kommt zum Beispiel auf dem Frankfurter Hauptfriedhof – statistisch gesehen – genau eine Person pro Beisetzung. Es gibt also viele Beerdigungen, bei denen gar niemand kommt.
Warum ist das so?
Meitzler: Tod und Trauer werden zunehmend zur privaten Angelegenheit. Bekannte oder Arbeitskollegen sind oft ratlos, wie sie kondolieren sollen, weil sie das „Handwerkszeug“ nie erlernt haben. In einer Gesellschaft mit einer Lebenserwartung von 80 Jahren wird der Tod – vor allem der frühzeitige – häufig ausgeblendet.
Am Land ist das aber noch anders. Da spielt oft eine Kapelle am Grab.
Meitzler: Ja, im dörflichen Bereich geht es noch eher traditionell zu. Da nimmt auch mal der Trachtenverein Abschied. Gerade in Bayern hat man noch relativ viele Sargbeisetzungen – was unter anderem religiöse Gründe hat. Generell ist der Bezug zur Religion in Bayern stärker. Das sieht man auch daran, dass es noch viele Kreuze als christliches Symbol am Grab gibt.
Wie ist in Bayern generell die Bestattungskultur?
Benkel: Solche Pauschalisierungen sind wissenschaftlich schwierig. Aber das bayrische Dorf ist tatsächlich in seiner Sterbe-, Trauer- und Friedhofskultur anders gestaltet. Da gibt es noch Leichenschmaus und Trauerkleidung, was in den Metropolen kaum mehr existiert. Am Land ist der Wunsch nach Ritualen noch verbreitet.
Manche Grabsprüche sind ziemlich derb. Etwa: „Hier ruht meine Dicke.“
Meitzler: Solche Kosenamen drücken Intimität aus. Unbeteiligte mögen sich darüber wundern. Doch die Auftraggeber haben sich etwas dabei gedacht. „Meine Dicke“ ist wohl mit einem Augenzwinkern zu verstehen. Oftmals erfährt man durch solche Inschriften nicht nur etwas über die Toten, sondern auch über ihr Umfeld. Nicht immer geht es dabei harmonisch zu. Wir haben schon gelesen: „Ich bin von Euch enttäuscht.“ Oder: „Die Dummheit der Menschen hat mich umgebracht.“ Der, den es betrifft, weiß meist genau, dass er gemeint ist. Manchmal werden mit wenigen Worten ganze Familientragödien erzählt (Die Forscher zeigen unserem Autoren Fotos)
Manche Grabmale versteht man nicht. Etwa das Herz, um das außen herum mehrfach „DMZ“ steht.
Benkel: Das ist Absicht. Man will gar nicht, dass Außenstehende das verstehen. Es ist ein Insiderwitz innerhalb der Familie oder des Freundeskreises – etwas Intimes.
Gibt es auch Sprüche, die zu weit gehen?
Benkel: Nicht bei allem macht die Friedhofsverwaltung mit. Wir haben Fälle erlebt, da musste der Grabstein entfernt werden. Nicht unbedingt wegen Derbheit: Einer wollte das Logo von Borussia Mönchengladbach auf einem Grab. Das fand der Pfarrer nicht in Ordnung. Man hat nicht komplett freie Hand auf deutschen Friedhöfen.
Früher stand „Brauereibesitzer“ drauf, heute „Mein letzter Marathon“…
Meitzler: Weil Freizeitpassionen häufig identitätsstiftender sind. Heute hat man selten sein ganzes Leben ein und denselben Arbeitsplatz. Das Hobby bleibt hingegen oft ein Leben lang und ist positiv besetzt.
Spielt Humor am Friedhof eine größere Rolle?
Benkel: Das nimmt durchaus zu. Es gehört zur Individualisierung der Grabsprüche, dass eine teils sehr eigenwillige Meinung kundgetan wird. Die sind dann emotional bis zum Ironischen und Sarkastischen. Wie etwa: „Gestatten Sie, dass ich liegen bleibe.“ Wir haben gelernt, dass Trauer auch Humor beinhalten kann.
Stammen die Sprüche von den Verstorbenen selbst?
Meitzler: Häufig wird das den Verstorbenen postmortal in den Mund gelegt. Es kommt auch vor, dass die betroffene Person das tatsächlich so gesagt hat. Oder es ist der Versuch – und das scheint mir der häufigere Fall zu sein –, die Mentalität des Verstorbenen einzufangen. In diesem Fall wählt man einen Spruch, von dem man denkt, dass er ihm gefallen hätte. Bei so einem Grab bleiben Friedhofsbesucher stehen. Das kalkuliert manch Angehöriger mit ein.
Steigt unser Bedürfnis nach Aufmerksamkeit bis über den Tod hinaus?
Benkel: Das würde ich nicht pauschal sagen. Durch Social Media wie Facebook können Verstorbene nach ihrem Tod sozusagen weiterexistieren. Auch das Ausdrucksrepertoire auf dem Friedhof ist heute größer: Man kann über einen QR-Code am Stein Bilder des Verstorbenen ansehen.
Bei aller Heiterkeit: Bleibt irgendwann die Würde auf der Strecke?
Benkel: Jeder entscheidet selbst für sich, was er als ein würdevolles Grab empfindet. Viele sagen sich heute: Es ist mir egal, wie jemand anderes das findet. Wenn ich und meine Familie das für richtig halten, dann machen wir das. Meitzler: Manchmal gibt es jedoch Konflikte mit der Friedhofssatzung.
Sind die Regeln streng?
Meitzler: Im europäischen Vergleich hat Deutschland mit die strengsten Regeln. Und das wird von vielen Menschen, die sich mehr Freiräume wünschen, kritisiert. Oft hören wir: Der Friedhof ist für mich kein Ort, an dem ich nach meinen Vorstellungen trauern kann, sondern in erster Linie ein Ort der Verbote. Das kann dazu beitragen, dass sich Menschen vom Friedhof abwenden.
Was wäre die Alternative für diese Menschen?
Benkel: Dass sie die Asche mit nach Hause nehmen oder sie an einem bestimmten Ort verstreuen – was derzeit illegal ist. Da ist das Ausland schon bedeutend liberaler.
Interview: Klaus Mergel, Fotos: Benkel/Meitzler