Torjäger für die Ewigkeit

von Redaktion

Gerd Müllers Torinstinkt prägte eine Fußballepoche. Heute wird der an Alzheimer leidende „Bomber“ 75

VON GÜNTER KLEIN

München – Vor einem Jahr erschien ein Buch, das den Namen „Gerd Müller“ im Titel trug. Aber eigentlich ging es weniger um eine klassische Biografie des großen Stürmers, sondern um den Fußball in den 60er- und 70er-Jahren und seine wirtschaftlichen Hintergründe. Geschrieben hatte es Hans Woller, ein Historiker. Kurz vor Weihnachten 2019 trug Woller an der Universität Augsburg in einer Abendveranstaltung aus „Gerd Müller oder wie das große Geld in den Fußball kam“ vor. Am Ende durften die Zuhörer Fragen stellen.

Woller hatte an einer Stelle über einen gewissen Willi Aschenbrenner geschrieben, einen alten Freund Müllers aus Nördlingen, der dem Fußballer lange verbunden war, ihn aber habe fallen lassen, als man „keine Geschäfte mehr mit ihm machen konnte“, wie Woller tadelnd anmerkte. Im Publikum in Augsburg meldete sich ein Mann: „Haben Sie denn auch in Nördlingen recherchiert? Haben Sie mit Aschenbrenner gesprochen?“ Woller sagte: „Ich habe mit zehn Leuten gesprochen. Mit Willi Aschenbrenner nicht. Der ist tot.“ Der Mann konterte: „Ich bin Willi Aschenbrenner.“

Der Abend hatte seine Sensation. Historiker Woller war blamiert, Aschenbrenner packte seine mitgebrachten Unterlagen aus. Beispielsweise einen Mietvertrag, den Gerd Müller mit Karl-Heinz Wildmoser abgeschlossen hatte. Dass der frühere Star des FC Bayern mal beim Präsidenten des TSV 1860 gewohnt hatte (nach der Zeit in den USA), ist eine neue Episode in einer Geschichte, die ausgeleuchtet schien und die die Welt kennt: Ein Junge mit kräftigen Oberschenkeln und dem Jahrhunderttalent, Tore zu schießen, kommt aus der schwäbischen Provinz nach München und macht den FC Bayern zum Weltclub und Deutschland zum Weltmeister, er verliert dann aber den Halt im Leben und findet ihn wieder, weil ihn die alten Freunde nicht vergessen. Das letzte Kapitel wird seit einigen Jahren geschrieben: Wie die Stille den Protagonisten umfasst, das Vergessen. Gerd Müller hat Alzheimer.

Er wird 75 diesen Dienstag, man kann ihn nicht mehr fragen zu Details seiner Vita. Seit sechs Jahren lebt der „Bomber der Nation“ im Pflegeheim, das erste Jahr wurde sein Aufenthalt diskret gemanagt. Als es auf seinen 70. zuging und an den FC Bayern Anfragen nach Interviews gestellt wurden, entschied sich der Verein für Transparenz. Er informierte: Gerd Müller ist krank, er wird nicht mehr gesund. Es wurde gebeten, die Privatsphäre der Familie zu respektieren; dies geschah auch.

Man klammert sich an die Bilder aus der Vergangenheit, die der, der sie schuf, selber wohl nicht mehr zuzuordnen weiß. Es müssen nun andere sprechen für Gerd Müller. Der gelernte Weber, der in Nördlingen als Schweißer arbeitete, wofür er morgens um sechs Uhr aufstand. In seiner Mannschaft erzielte er 180 von 204 Saisontoren, halb Süddeutschland wollte ihn haben, der FC Bayern bekam ihn 1964 – für 4400 D-Mark Ablöse und 5000 Mark Handgeld. „Er war ein Quadrat, er kam mit zehn Kilo Übergewicht“, sagt Franz Beckenbauer. „Gerd war der genialste Spieler, den ich je gesehen habe“, meint Paul Breitner. Hermann Gerland spielte als rustikaler Verteidiger des VfL Bochum in der Bundesliga gegen Müller und war Jahrzehnte später sein Trainerkollege bei der zweiten Mannschaft des FC Bayern. Seine Analyse des Spielers Gerd Müller: „Er drehte sich schnell – und er stand auch schnell wieder auf.“

Müller-Tore waren keine logischen Treffer (außer denen, die aus Doppelpässen mit Franz Beckenbauer resultierten), Müller-Tore entstanden aus dem Nichts. Für die moderne Fußball-Mathematik, die Wahrscheinlichkeiten für einen Torerfolg aus den Positionen auf dem Spielfeld errechnet, wäre Gerd Müller ein Mysterium gewesen.

„Er war unsere Lebensversicherung. Notfalls hat er in der Nachspielzeit den Hintern hingehalten und so das Tor gemacht“, beschreibt Paul Breitner den Instinkt von Müller, der ihm sämtliche nationalen Torjäger-Bestmarken sicherte. 68 Tore in 62 Länderspielen, 365 Treffer in 427 Bundesligapartien, 40 in seiner besten Saison 1971/72. Breitner: „Gerd war, was heute Messi, Ronaldo und einige andere zusammen sind.“

Eine Meinung, die durch die Torquoten der modernen Offensivspieler zu widerlegen ist – doch man denkt an Gerd Müller ja nicht nur wegen seiner Momente in den Stadien mit warmem Herzen zurück. Seine Geschichte ist auch die eines Menschen, der im Erfolg nicht überschnappte. Und der sich dem Schicksal stellen musste wie andere auch. Seines war, dass der Alkohol sich ins Leben schlich. Als Mittel gegen die Flugangst; Fußballer müssen fliegen, es geht nicht anders. Dazu kam das Scheitern in Amerika. Ein FC Bayern im Umbruch vertrieb ihn 1979, Trainer Pal Csernai demontierte Müller mit einer Auswechslung in Frankfurt. Heutzutage werden auch Stars vom Feld geholt oder im dichten Terminkalender mal nicht aufgestellt – bei Müller aber hatte immer gegolten: Man muss bei ihm auch 89 Minuten der Unsichtbarkeit hinnehmen, weil es eine 90. Minute gibt.

Bei den Fort Lauderdale Strikers bekam Müller nicht seine Nummer 9 (oder wie in Turnieren die 13), sondern die 15. In seinem ersten Spiel sah er keinen Ball, der Nordire George Best, selbst ein alternder Superstar, weigerte sich, zu ihm zu passen, „weil ich der viel bessere Spieler bin“. Nach dem Fußball versuchte Müller sich als Geschäftsmann zu etablieren in Florida. Sein Steakhouse „Gerd Mueller’s Ambry“ war ein Misserfolg. Geschlagen kehrte er nach Deutschland zurück, war dann Mieter bei Karl-Heinz Wildmoser und versuchte sich mit dem Augsburger Helmut Haller an einem Sportartikelversand für Vereine („AT Sport“). Als Bayern-Manager Uli Hoeneß die Notlage Müllers erkannte, startete er das Hilfsprogramm: Alkoholentzug – und eine Aufgabe, die Struktur in den Tag bringt: Der Gerd sollte im Trainerstab mitarbeiten. Jungen Spielern beibringen, wo das Tor steht. Das wusste keiner besser als er.

Der FC Bayern übernahm das Patronat über seinen wohl wichtigsten Spieler der Vereinsgeschichte. Gerd Müller kam jeden Morgen an die Säbener Straße, und wenn er vor acht Uhr da war, konnte man ihn in seinem Auto sitzen sehen, er las dann noch Zeitung. Auf der Geschäftsstelle trug er schon mal Kartons, bevor das die Damen tun mussten, und wenn die Bayern auf Champions-League-Reise gingen, fuhr er mit. Er fühlte sich zwischen VIPs und Edelfans nur bedingt wohl, er sah es als Teil seines Dienstes an.

Er war ehrlich. Es war nicht böse gemeint, wenn er über einen früheren prominenten Mit- und Gegenspieler sagte, dieser sei „a rechter Wixer“ gewesen, oder wenn er mit dem „Bild“-Reporter einen hochrangigen Stürmer, neu in der Bundesliga, begutachtete und nach ein paar Minuten urteilte: „A Blinder.“ Die Medien lieb(t)en Müller. Er suchte das Kameralicht nicht, erledigte aber aus Pflichtbewusstsein, was man von ihm verlangte. Er sang als junger Nationalspieler eine Platte ein („Dann macht es bumm“), ließ sich mit Königsinsignien auf einem Thron fotografieren (wovon jeder PR-Stratege abraten würde) und von einem Fernsehteam begleiten, als er seine Mutter besuchte, weil sie Kartoffelsalat zubereitet hatte. Er aß ihn am liebsten pur, die Beilage ist das Hauptgericht des Bescheidenen. Er spielte auch mit den Journalisten Fußball, in den 60ern und frühen 70ern, jeden Montag. Einer, der mitkicken durfte, sagte, dass Müller noch ein viel besserer Fußballer als Beckenbauer gewesen sei. Ein bisschen Mythos muss schon sein.

Uschi, seine Frau seit über fünfzig Jahren, mit ihm durch alle Krisen gegangen, besucht ihn täglich im Pflegeheim. Auch heute wird sie da sein. Vermutlich ist es Müllers letzter Geburtstag, denn die Krankheit hat einen kritischen Punkt erreicht. „Der Gerd schläft seinem Ende entgegen“, sagte Uschi Müller der „Bild“. Sie werde versuchen, ihn mit langsamen Worten zu unterhalten, und mit ihm Fernsehen schauen.

Ab und an kommen die Freunde von einst vorbei. Rainer Bonhof, Weltmeister von 1974, der Mann, der Müller die Vorlage zum 2:1-Siegtor über die Niederlande gab, weinte nach einem Besuch, so Uli Hoeneß, „weil Gerd so ein Schicksal erleiden muss“.

Aber er selbst empfindet das wohl gar nicht als solches. Paul Breitner berichtet, wie er bei einem Spaziergang, als es gesundheitlich noch etwas besser ging, nach fünf Minuten für Müller nicht mehr präsent war und dieser in seiner eigenen Welt verschwand. Er würde es nicht mitbekommen, wenn Robert Lewandowski, der jetzige große Mittelstürmer der Bayern, seinen Rekord bräche. Es wäre nicht wichtig. Vielleicht hat Lewandowski aber auch das Gespür, dass 39 Tore genug sind.

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