Neun Minuten Terror im Herzen Wiens

von Redaktion

VON CHRISTINA PETERS UND SANDRA WALDER

Wien – Der Steinbrocken auf dem Boden zeugt von der blutigen Spur des Terrors. Ein Schuss hat ihn aus dem Türrahmen einer Stuckfassade am Wiener Salzgries gesprengt. Das angrenzende Labyrinth von Gassen voller Kneipen, das die Wiener Bermudadreieck nennen, ist am Dienstag abgesperrt. Jeden Zugang bewachen Polizisten.

Vor der Hauptsynagoge in der Seitenstettengasse nahm die Terrornacht von Wien ihren Ausgang. Ein Mann feuerte am Montag gegen 20 Uhr wahllos in die Lokale, zieht danach weiter. „Plötzlich fielen Schüsse, erst so 20, dann acht und dann wieder 20“, schildert ein Augenzeuge gegenüber der Nachrichtenagentur APA. Er habe das Geschehen gar nicht einordnen können. „Wer denkt denn in Wien an einen Anschlag?“

Mindestens vier Menschen werden tödlich getroffen, über ein Dutzend sind teils schwer verletzt. Um 20.09 Uhr erschießt ein Polizist den Attentäter. Die Stadt geht in den Ausnahmezustand – zunächst ist von mindestens einem weiteren bewaffneten Täter die Rede. Aber es war, Stand Dienstagabend, wohl ein Einzeltäter.

Ausgerechnet an einem milden Abend in den letzten Stunden vor dem zweiten Corona-Lockdown in Österreich, ausgerechnet in der Ausgehmeile zwischen Wiens historischer Altstadt und dem Donaukanal – der Attentäter hätte kaum einen belebteren Ort finden können. Die Terrassen der Lokale sind voll, scharenweise stehen Menschen an so einem Abend um die Würstelstände am trubeligen Verkehrsknoten Schwedenplatz.

Plötzlich ist alles vorbei. An einem der markanten U-Bahn-Eingänge sackt auf einem Augenzeugenvideo ein Mann zusammen, von Schüssen getroffen. „Wir sind losgerannt“, sagt eine 30-Jährige, die am Montagabend nur ein paar Gassen entfernt mit drei Freunden vor einer Bar saß. Im Chaos habe sie ein Mann in ein Bürogebäude gewunken, etwa zu zehnt harrten sie dort bis in die frühen Morgenstunden aus.

Am Morgen sind nur wenige Passanten unterwegs, im ersten Bezirk Wiens herrscht überhaupt große Stille. Einsatzkräfte der Militärpolizei stehen in den Gassen, schwer bewaffnete Polizisten auf dem großen leeren Platz vor dem Stephansdom.

„Schockiert sind wir, es ist eine völlige Katastrophe“, sagt ein 45-Jähriger. Am Dienstagmorgen will er in seinem Lokal nach dem Rechten schauen, das nun wegen des Corona-Lockdowns geschlossen hat. Am Abend harrten auch bei ihm etwa 35 Gäste mit Kellnern bis um 2 Uhr morgens aus, wie er sagt. „Wir alle wollten doch noch ein bisschen Freiheit vor dem Lockdown genießen“, sagte eine 60-Jährige auf dem Weg ins Büro.

Aber auch die Sicherheitsbehörden geraten in den Fokus, als die Identität des erschossenen Angreifers feststeht. Der 20-jährige Kujtim Fejzulai hatte keine unauffällige Vergangenheit. Er habe nach Syrien reisen wollen, um sich dem Islamischen Staat (IS) anzuschließen, erklärte das Innenministerium. Die Terrormiliz bekannte sich gestern noch zu dem Anschlag.

Der ehemalige Anwalt Nikolaus Rast sagte am Dienstag, der junge Mann stamme aus einer völlig normalen Familie. „Für mich war das ein Jugendlicher, der das Pech gehabt hat, an die falschen Freunde zu geraten“, so der Strafverteidiger gegenüber der Nachrichtenagentur APA. Seit Jahren sympathisierte er mit dem IS. Letztes Jahr musste sich der Wiener dann wegen seiner IS-Mitgliedschaft vor Gericht verantworten. Nach Medienberichten hatte sich seine eigene Mutter an die Behörden gewandt. Er wurde zu 22 Monaten Haft verurteilt, nahm an einem Deradikalisierungsprogramm teil und wurde wegen günstiger Prognose vorzeitig entlassen. Er habe alle getäuscht, sagt Anwalt Rast.

Im April 2019 gab der mutmaßliche Terrorist vor dem Wiener Landgericht an, dass er sich in seinem Leben nie benachteiligt gefühlt hatte. Während der Pubertät begann er sich mit dem Islam zu beschäftigen. Ende 2016 sei er nach eigenen Aussagen in die „falsche Moschee“ geraten. Seine Leistungen in der Schule wurden immer schlechter, Streit mit der Mutter gab es immer öfter. „Ich wollte weg von zu Hause“, erzählte der Mann vor Gericht. Vom IS habe er sich ein besseres Leben erwartet. „Eine eigene Wohnung, eigenes Einkommen.“

Eine Reise nach Kabul zum IS mit einem Freund scheiterte, weil die Männer zu spät bemerkten, dass sie ein Visum für Afghanistan benötigten. Im September 2018 brach der mutmaßliche Terrorist alleine in die Türkei auf. Von dort wollte er nach Syrien, um für den IS zu kämpfen.

Zwei Tage nach seiner Ankunft in der Türkei nahmen ihn türkische Polizisten fest. Er saß vier Monate in Haft, ehe er nach Österreich überstellt wurde. Ende vergangenen Jahres war er von den Behörden anscheinend als nicht mehr gefährlich eingestuft und so frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden.

„Es stellen sich nun drängende Fragen: Wieso konnte ein amtsbekannter und schwer vorbestrafter Islamist mit dem IS Kontakt aufnehmen? Wo und wie konnte er die Waffen beschaffen?“, fragt Florian Klenk, Chefredakteur des Wiener Stadtmagazins „Falter“ und einer der angesehensten Journalisten des Landes, auf Twitter.

Ein Anschlag mitten ins Wiener Herz – trotz aller Fassungslosigkeit reagiert die Stadt auf ihre eigene Art und Weise. „Schleich di, du Oarschloch“, rief ein Wiener aus seinem Fenster dem schießenden Attentäter hinterher. Ein anderer Mann soll dem Terroristen eine Vase nachgeworfen haben.

Die am Abend vor dem Lockdown bei letzten Aufführungen besonders voll besetzten Kulturhäuser gingen ebenfalls stoisch mit der Lage um. Star-Percussionist Martin Grubinger, der vor rund 1000 Menschen im Konzerthaus spielte, erhielt früh Informationen der Polizei über die Anschläge. Die Beamten baten ihn weiterzuspielen, um so die Besucher so lange wie möglich abzulenken. Grubinger und das Orchester gaben extra lange Zugaben, erst dann wurden die Besucher informiert. Auch die Philharmoniker spielten nach ihrer Aufführung für die eingeschlossenen Besucher der Wiener Oper, bevor sie sicher nach Hause gehen konnten.

Artikel 2 von 5