Kaprun – der Schock, der nicht weichen will

von Redaktion

VON HEIDI GEYER

Traunstein – Dass Josef „Pepi“ Ferstl heute im Ski-Weltcup fährt, grenzt an ein Wunder. Denn der gebürtige Traunsteiner fährt am Tag der Katastrophe, am 11. November 2000, mit der Unglücksbahn von Kaprun, die am Berg dreht und bei der nächsten Fahrt die größte Katastrophe Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg auslöst. Der damals Elfjährige ist auf dem Gletscher zu einem Sichtungslehrgang. „Ich habe dort Familienangehörige, Kollegen und Freunde verloren. Für mich ist das ein sehr emotionales Thema“, sagt der Skirennläufer. Seine Stimme wird leiser.

Sein Onkel Franz und sein bester Freund Massimo reisen an diesem Morgen mit dem Bus aus dem Chiemgau an und erwischen den abfahrenden Zug zum Gletscher am Kitzsteinhorn um 9.07 Uhr. Ferstl ist schon in einem Schlepplift im Skigebiet, als plötzlich der Strom ausfällt. „Wir haben den Rauch gesehen, der aus dem Alpincenter kam“, sagt Ferstl. 45 Minuten später wird die Gruppe mit den Nachwuchsskifahrern mit der Gondelbahn, die parallel zur Gletscherbahn läuft, per Notstromaggregat ins Tal gebracht.

„Ich hatte damals noch kein Handy. Zum Glück konnte ich zwei Stunden nach dem Unglück mit dem Telefon von jemand anders meine Eltern erreichen“, sagt Ferstl. „Meine Eltern haben mich am frühen Nachmittag in Kaprun abgeholt und mir gesagt, dass etwas Schlimmes passiert ist.“ Lange Zeit sei nicht klar gewesen, ob sein Onkel und seine Freunde aus dem Skiteam überlebt hatten. „Es war ein Wahnsinn, weil ich genauso dabei sein hätte können“, sagt Ferstl.

155 Menschen sterben, darunter Ferstls Freund Massimo und sein Onkel Franz. Der ist damals beim Siegsdorfer Verein SC Eisenärzt Trainer und betreut eine Gruppe, von der viele Kinder ebenfalls in der Unglücksbahn sitzen.

Darunter ist auch der 14-jährige Sebastian, Sohn von Uschi Geiger aus Übersee. Geiger und ihr Mann erhalten von einem anderen Mädchen aus der Skigruppe die Nachricht, dass etwas passiert sei. Sie fahren sofort nach Kaprun. Bis in die Abendstunden warten sie auf Informationen. Dann hört Geiger zwei Sanitäter, die sich unterhalten: „Mei, wann sagen sie es ihnen denn jetzt endlich?“ Keiner will den Angehörigen mitteilen, dass ihre Liebsten verbrannt sind.

Josef Ferstls Eltern versuchen, ihm schonend beizubringen, dass seine Freunde und sein Onkel tot sind. „Die waren plötzlich nicht mehr da. So richtig hab ich das damals nicht realisiert, aber mir ging das dennoch sehr nahe“, sagt Ferstl und ringt um Fassung. Das Skifahren habe ihn damals sehr gut abgelenkt. Erst als Erwachsener habe er die Dimensionen von damals verstanden. Erst recht, da er heute selbst Vater zweier Kinder ist.

Bei Uschi Geiger stellt sich neben dem Schock schon früh Irritation ein. „Von Anfang an hatte ich das Gefühl, dass wir hingehalten werden, dass man versucht, gezielt Informationen von uns fernzuhalten“, sagt sie. Nach dem Unglück war sie das Sprachrohr der Angehörigen und ist das bis heute. Die Wucht der Katastrophe habe Menschen ganz unterschiedlich getroffen: „Da waren kleine Kinder, die ihre Eltern verloren haben, aber auch Menschen, die ein Haus gebaut hatten, Schulden hatten und plötzlich war der Hauptverdiener tot.“

Eigentlich würde man in so einem Moment Hilfe und Unterstützung erwarten. Geiger und viele Angehörige hatten vielmehr das Gefühl, dass man ihnen Knüppel zwischen die Füße wirft. Die Versicherung forderte eine detaillierte Rechnung über die Kosten der Skiausrüstung, bevor sie zahlte. Fehlte die Rechnung der Skischuhe, bekamen die Eltern kein Geld, erzählt Geiger.

Rechtfertigt eine solche Katastrophe nicht unbürokratische Hilfe? Nie sei den Angehörigen die Frage gestellt worden, „was braucht ihr jetzt?“, sagt Geiger. Sie schildert diese Erlebnisse nüchtern und sachlich. Der emotionale Ausbruch ist nicht ihr Ding, obwohl ihre Bitterkeit spürbar ist. Speziell der Strafprozess, der im Jahr 2004 zu einem Freispruch aller Angeklagten führte, habe viele Angehörige traumatisiert. Aus Sicht des Salzburger Richters Manfred Seiss lag es statt an der Gletscherbahn am Hersteller eines Heizlüfters (siehe Kasten). Dieser soll für die Katastrophe verantwortlich sein – ausgerechnet eine deutsche Firma.

Der Ausgang des Prozesses habe sie kalt erwischt, erzählt Geiger, sie habe bis zum Schluss nicht mit einem Freispruch gerechnet. Es nagt heute noch an ihrem Rechtsverständnis, ihr Blick wird steinern, wenn sie davon erzählt. Geiger geht es nicht um Rache. „Aber den Satz ‚Wir haben unser Bestes getan, aber es war unsere Schuld‘ – den hätte ich einfach gern gehört“, sagt die Überseerin.

Josef Ferstl ist ebenfalls fassungslos, dass niemand beim Verfahren die Verantwortung für die Katastrophe zugesprochen bekommen hat. „Wie kann da keiner schuld sein?“ Der Profi-Sportler, der wie sein Vater auf der berühmten Streif von Kitzbühel gewonnen hat, hat sich tief in die Materie eingearbeitet. Er kennt kleinste Details aus dem Prozess. Und Ferstl kennt auch die Seite der Opfer: Er hat miterlebt, wie Familien zerstört wurden. Er weiß von Angehörigen, die auch heute, 20 Jahre später, noch unter den Folgen der Katastrophe und dem Urteil der österreichischen Justiz leiden. „Ich verstehe jeden Angehörigen, der wütend ist. Das ist unterste Schublade!“

Ein Schuldspruch hätte auch ganz praktische Konsequenzen für die Hinterbliebenen gehabt, erzählt Uschi Geiger. Denn die Auszahlung von Entschädigungen hing davon ab. „Es geht nicht um Geldgier, sondern darum, dass ein Schaden entstanden ist“, sagt sie. Aus ihrer Sicht war es eine Zermürbungstaktik. Der Vergleich, auf den sich die Angehörigen schließlich mit der Gletscherbahn einigten, um nicht noch jahrelang in einem Zivilprozess zu streiten, hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Denn die Kosten der Anwälte waren nicht Teil des Vergleichs: „Da kann man sich vorstellen, wie viel da übrig bleibt, wenn man acht Jahre lang Anwälte beschäftigt.“

Geiger hat es geschafft, ihre Wut in Kraft zu verwandeln. Heute ist sie Schöffin am Jugendgericht in Traunstein und am Verwaltungsgericht in München, außerdem sitzt sie im Überseer Gemeinderat. Ihr Herzensprojekt ist aber ein anderes. Gemeinsam mit ihrer Schwester organisiert sie den Familienstützpunkt Übersee, der sich um Familien kümmert, die Hilfe brauchen. Denn sie will Menschen nicht in Not allein lassen, so wie es ihr geschehen ist.

Uschi Geiger ist jedes Jahr in Kaprun dabei, wenn sich die Katastrophe jährt, repräsentiert auch hier noch die Angehörigen. Und weist auf Aspekte hin wie etwa, dass es nicht im Interesse der Angehörigen wäre, wenn der heutige Salzburger Landeshauptmann Wilfried Haslauer (ÖVP) bei der Gedenkfeier dabei wäre. Denn er war damals einer der Verteidiger der Beschuldigten im Prozess.

Heuer werden viele der Angehörigen aus dem Ausland wegen der Corona-Pandemie nicht nach Kaprun reisen können. „Dabei wäre es immer noch so wichtig“, sagt Geiger. Sie selbst wird an der geplanten Gedenkfeier teilnehmen können. Sie hat sich dazu extra mit dem Gesundheitsamt abgestimmt.

Ihr Sohn wäre in diesem Jahr 34 Jahre alt geworden. Obwohl sich Geiger seit 20 Jahren mit der Katastrophe auseinandersetzt, kommen ihr die Tränen, fragt man nach ihrem Sohn. Was er für ein Kind gewesen sei? „Er mochte es wild. Sebastian war sehr gerne bei den Ferstls und hat sich dort ausgetobt“, erzählt sie. Skifahren sei seine absolute Leidenschaft gewesen. Eigentlich wollte er an diesem Tag vor 20 Jahren nur das tun.

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