München – Schon der Name lässt erahnen, wie ehrgeizig das Projekt ist: Unter dem Motto Lightspeed – zu Deutsch Lichtgeschwindigkeit – hat das Mainzer Unternehmen Biontech seit Mitte Januar die Entwicklung seines Corona-Impfstoffs in beispiellosem Tempo vorangetrieben. Jetzt, gerade mal zehn Monate später, steht er vor der Zulassung. Aber wie effektiv und wie sicher ist der Impfstoff wirklich? Die ersten Daten der entscheidenden Phase-3-Studie sind ermutigend. Theoretisch könnte das Mainzer Mittel mit dem technokratischen Entwicklungsnamen BNT162b2 also den Kampf gegen die Covid-19-Pandemie revolutionieren – und der Welt ihr altes, vergleichsweise unbeschwertes Leben aus Vor-Corona-Zeiten zurückgeben. Aber Münchner Wissenschaftler warnen auch vor allzu ungebremster Euphorie. Die Experten-Analyse
Die Wirkweise
Der Impstoff aus Mainz gehört zur Gruppe der sogenannten Messanger-RNA-Impfstoffe. „Vereinfacht erklärt wird bei der Impfung die Bauanleitung für bestimmte Eiweißbestandteile des Sars-Cov-2-Virus verabreicht. Danach werden aus diesen Bauanleitungen in menschlichen Zellen ungefährliche Virusbestandteile produziert. Diese lösen ein Training des Immunsystems aus, und es werden Antikörper gebildet. Sollte der Mensch dann wirklich auf das SARS-Corona-Virus-2 treffen, fangen die gebildeten Abwehrstoffe die Viren ab und zerstören sie, bevor die Erreger überhaupt in die Zellen eindringen und sich dort vermehren können“, erklärt Privatdozent Dr. Christoph Spinner, Infektiologe und Corona-Experte am Uniklinikum rechts der Isar.
Der Ablauf
Im Rahmen der Studie ist der Impfstoff zwei Mal gespritzt worden – im Abstand von drei Wochen. Die Wirkung soll eine Woche nach der zweiten Dosis, also nach insgesamt vier Wochen, eintreten.
Der Schutz
Der Mainzer Hersteller Biontech beruft sich auf eine sogenannte Phase-3-Studie, die für die Zulassung entscheidend ist. Daran haben über 43 000 Menschen teilgenommen. Das wichtigste Ergebnis: Neun von zehn Teilnehmern konnten mit dem neuen Impfstoff vor einer Corona-Infektion geschützt werden. Zum Vergleich: Die bereits lange erprobte Impfung gegen die echte Virusgrippe Influenza erreicht eine Schutzquote von etwa 50 bis 80 Prozent.
Die sehr hohe Treffsicherheit beim Impfstoff des Mainzer Start-Up-Unternehmens überrascht selbst erfahrene Experten: „Dies ist bemerkenswert“, erklärt Professor Dr. Clemens Wendtner, Corona-Experte und Chefinfektiologe der München Klinik Schwabing. Denn für die internationale Zulassung hätte bereits eine 50-prozentige Schutzquote gereicht. „Insofern macht der Wert von Biontech mit über 90 Prozent natürlich Mut“, sagt Uni-Wissenschaftler Spinner, betont aber zugleich: „Momentan liegt lediglich eine Pressemitteilung des Unternehmens vor. Wir kennen die genauen Daten noch nicht.“
Auch Wendtner gibt zu bedenken, dass die Beobachtungszeit nach der zweiten Impfung noch sehr kurz ist.
Wie lange die Impfung Schutz bietet, darüber traut sich bislang offenbar kein Experte eine seriöse Aussage zu. Gleiches gilt für die Frage, ob Nebenwirkungen nach einem längeren Zeitraum auftreten könnten. „Solche Langzeitnebenwirkungen müssen auf dem Radarschirm bleiben“, fordert Wendtner.
Die Nebenwirkungen
Unter den 43 000 Teilnehmern der Studie gab es laut Biontech keinen Fall mit schwerwiegenden Nebenwirkungen. Allerdings veröffentlichte das Unternehmen dazu gestern keinerlei Details.
„Wir wissen noch nichts darüber“, bestätigt Spinner. Jedoch scheinen unabhängige Kontrolleure bislang keinen Hinweis auf entsprechende Probleme zu haben. „Es wurden keine Sicherheitsbedenken geäußert“, bestätigt Wendtner. Zur Erklärung: Bei solchen Studien überprüfen Wissenschaftler, die selbst nicht an der Auswertung beteiligt sind, die Datensätze auf von den Studienärzten dokumentierte Nebenwirkungen.
Die Herstellung
In der kommenden Woche will Biontech gemeinsam mit seinem Partner Pfizer bei der US-Genehmigungsbehörde FDA die Zulassung des Impfstoffs beantragen – und zwar im Rahmen einer Notfallzulassung. So war auch bereits im Zusammenhang mit der Zulassung des Medikaments Remdesivir verfahren worden. Wenn die FDA grünes Licht gibt, würde nach Wendtners Einschätzung noch im alten Jahr die erste Impfwelle anrollen. Das Unternehmen könnte dafür nach eigenen Angaben 50 Millionen Impfdosen zur Verfügung stellen – und nächstes Jahr 1,3 Milliarden.
„Das Herstellungsverfahren ist im Vergleich zu klassischen Impfstoffen sehr viel schneller und kann auch relativ schnell bei Auftreten von Virusmutationen angepasst werden“, erläutert Wendtner. Der Experte wagt einen Blick in die Zukunft: „Die übergeordnete Botschaft ist, dass ein völlig neues Impfprinzip erstmalig seine Effektivität bewiesen hat.“ Die Konsequenz: Das neue Verfahren könnte künftig die Impfstoffherstellung weltweit revolutionieren und ein neues Milliardengeschäft in Gang setzen. Dabei wollen neben Biontech auch Konkurrenzunternehmen verdienen. Sie haben eine Fülle von Impfstoffen in der Testphase.
Der Wettlauf
Die Suche nach dem Impfstoff hat seit Beginn der Pandemie einen weltweiten Wettlauf ausgelöst, wie ihn die Wissenschaft nie zuvor sah. Noch vor Abschluss der international üblichen klinischen Tests kam in Russland bereits am 11. August ein Impfstoff des staatlichen Instituts Gamaleya auf den Markt. In China wurden im Rahmen einer Notfallzulassung Hunderttausende mit dem Vakzin Sinovac geimpft.
In Europa lag das britische Unternehmen AstraZeneca aus Oxford zeitweise weit vorne. Als ein Proband möglicherweise im Zusammenhang mit dem Impfstoff erkrankte, musste die Firma die dritte Testphase im September unterbrechen.
Weltweit forschen nach Angaben der WHO rund 200 Universitäten, Institute und Firmen am Corona-Impfstoff, von denen zehn bereits in der dritten und letzten Testphase vor der offiziellen Zulassung sind. Zu ihnen zählt auch das Mainzer Start-Up Biontech in Kooperation mit dem Pharma-Riesen Pfizer (USA).
Die Gesamteinschätzung
Für den Münchner Infektiologen Clemens Wendtner, der bereits die ersten Corona-Patienten in Deutschland behandelt hat, sind die Daten aus der Biontech-Studie trotz aller Vorsicht „ein Silberstreif an dem sonst so düsteren Horizont“. Er erwartet eine regelrechte „Impfschlacht“ im kommenden Jahr: „Mögen die 1,3 Milliarden Dosen, die vom Hersteller versprochen werden, ihren wichtigen Dienst in der Pandemie tun, möge es gelingen.“
Auch sein Kollege Spinner hofft darauf, dass sich die hohe Wirksamkeit des Mainzer Mittels bestätigt: „Wenn über 90 Prozent der Geimpften tatsächlich geschützt werden könnten, wäre im Kampf gegen Corona viel gewonnen.“
Beide Münchner Top-Mediziner warnen allerdings davor, die aktuellen Schutzmaßnahmen wegen der ermutigenden Impfaussichten zu vernachlässigen. Sie seien wichtiger denn je, zumal sich das Infektionsgeschehen immer mehr zuspitzt. So werden in zahlreichen Münchner Kliniken derzeit die Kapazitäten auf den Intensivstationen erhöht und planbare Operationen verschoben.