Feres/Athen – Um das „Kastro“ zu erreichen, muss man die letzten Höfe der kleinen Ortschaft Feres hinter sich lassen. Das eigentümliche Café, von weiten, fruchtbaren Feldern umgeben, macht seinem Namen „Die Burg“ alle Ehre. Das Gebäude ist ein nachgeahmter Wehrbau im Kleinformat. Ein Teich ist angelegt, Enten watscheln auf die Sonnenterrasse, wo Gäste einen griechischen Mokka genießen. Ein paar Meter weiter auf der Sandstraße ist Schluss mit der Idylle. Keiner kann hier weiter. Das dürfen nur griechische Soldaten, Grenzwächter und Polizisten. Und neuerdings Bauarbeiter.
Feres liegt am Grenzfluss Evros im Nordosten Griechenlands. Der Evros entspringt im Rila-Gebirge in Bulgarien, fließt durch die oberthrakische Tiefebene und ist in weiten Teilen identisch mit der gut 200 Kilometer langen Festlandsgrenze Griechenlands zur Türkei.
In Feres, direkt hinter dem Café „Kastro“, kurz bevor der Evros (türkisch: Meric Nehri) in die Nord-Ägäis mündet, ist die Festung Griechenland löchrig. Seichte, sumpfige Stellen im Fluss locken Flüchtlinge und Schlepper an. Sie wollen nur eines: Von der Türkei nach Griechenland. In die EU. Wunschziel: Deutschland. Hier in Feres ist der Zutritt in die EU leichter als anderswo am Evros.
Im April 2021 soll der Grenzzaun fertig sein
Griechenland baut hier einen neuen Grenzzaun. Sein Zweck: den Flüchtlings- und Migrantenstrom stoppen. Die neue Mauer in Griechenland, dem EU-Außenposten, wird 27 Kilometer lang sein, fünf Meter hoch, aus Stahlelementen bestehen, an drei Abschnitten verlaufen. Kostenpunkt: 63 Millionen Euro. Um die Grenze aus der Luft im Auge zu behalten, werden acht Wachtürme errichtet. Zudem wird der seit 2012 bestehende zwölf Kilometer lange Grenzzaun bei der Ortschaft Kastanies, 104 Kilometer nördlich von Feres, repariert, verstärkt und von 3,50 auf 4,30 Meter erhöht. Auch dieser Abschnitt wird damit unüberwindbar.
Fertig sein soll Hellas‘ neue Mauer im April 2021. Premierminister Kyriakos Mitsotakis von der konservativen Nea Dimokratia (ND) ist fest entschlossen, das Projekt zu verwirklichen. Erst kürzlich inspizierte Mitsotakis die Bauarbeiten. „Das ist das Mindeste, was wir tun können, damit sich die Bürger sicher fühlen können“, sagt er. Der Grenzzaun soll auch vor Überschwemmungen schützen. Davon sind die Agrarflächen häufig betroffen. Obendrein werden Straßen für die griechischen Streitkräfte und die Polizei angelegt. Auch die ortsansässigen Landwirte sollen sie nutzen können.
Die Bewohner der Region stehen geschlossen hinter dem Projekt. Die Stimmung hat sich nach der anfänglichen Sympathie gegen die Flüchtlinge gedreht. Das zeigte sich mit voller Wucht Ende Februar. Am Evros entzündete sich eine schwere Krise zwischen der EU und der Türkei. Nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan verkündet hatte, die Grenze zu Griechenland werde geöffnet, strömten tausende Migranten an den Grenzübergang Kastanies. Erdogan drohte, „Millionen“ Migranten nach Europa zu schicken.
Griechen sehen sich in einer Art Kriegszustand
Sein Plan scheiterte, weil die Griechen ihre Grenze verbissen verteidigten. Mit Wasserwerfern, Tränengas, Blendgranaten, Gummigeschossen. Die Bewohner von Kastanies, Feres und anderen Grenzorten halfen den Einsatzkräften – physisch, psychisch, materiell. Nachts patrouillierten Landwirte auf Traktoren am Evros, Seite an Seite mit Uniformierten. Die Frauen verteilten Essen an Soldaten und Polizisten. Ihre Mission: Den Angriff abwehren. Ganz so, als sei Krieg.
Das Gros der Griechen will keine Migranten mehr. Das sagen sie ohne Umschweife. Sie sehen sich von der EU im Stich gelassen. Von 2015 bis 2019 kamen nach offiziellen Angaben insgesamt 1,2 Millionen Flüchtlinge und Migranten von der Türkei über die Festlands- und Seegrenze nach Griechenland. Hellas hat elf Millionen Einwohner.
Die Griechen sagen, Erdogan benutze die in der Türkei lebenden Flüchtlinge und Migranten, um Druck auf Griechenland auszuüben. Der Richtung Grenze geleitete Flüchtlingsstrom sei im Grunde ein nicht militärisch geführter Krieg gegen Hellas, begleitet von Propaganda, Desinformation und Cyberattacken. Die Türkei sei ein gefährlicher Nachbar. Skrupellos, heimtückisch.
Erdogan gab Ende März auf, zumindest am Evros. Türkische Behörden brachten die Migranten wieder ins Landesinnere. Für die Griechen ist der Abwehrkampf am Grenzfluss nur noch eines: Das Epos vom Evros.
Orte wie Feres haben enorme Symbolkraft
Doch in der Ost-Ägäis brach Erdogan gleich einen neuen Streit mit Griechenland vom Zaun, in dem es nicht nur um die dort vermuteten Gas- und Ölvorkommen geht. Der Türkei geht es um mehr. Stichwort: „Blaues Vaterland“ („Mavi Vatan“), die Doktrin für die Meerespolitik des Landes. Das Dogma Ankaras: Das östliche Mittelmeer gehört in großen Teilen uns. Und nicht nur das. Die meisten Griechen sehen in Erdogan immer mehr einen Staatsführer, der die Expansion der Türkei anstrebt. Griechische Kommentatoren verglichen Erdogan sogar mit Hitler.
Die Regierung in Athen ist überzeugt, Erdogan wolle den am 24. Juli 1923 unterzeichneten Lausanner Vertrag aushebeln. Im Lausanner Vertrag wurden nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches die Grenzen der damals aus der Taufe gehobenen Republik Türkei festgezurrt. Mit Griechenland, aber auch mit Syrien. Bis spätestens 2023, genau 100 Jahre nach der Unterzeichnung, wolle der „Neo-Sultan“ Erdogan Fakten schaffen, um den Vertrag nach und nach umzuschreiben, so Athens Sichtweise. Erdogans Ziel sei es, neue Grenzen zu ziehen, um in die Fußstapfen des Osmanischen Reiches zu treten. Die Türkei als neue Supermacht – islamisch geprägt, nationalkonservativ, radikal. Das in Sachen Bevölkerung, Wirtschaftskraft und geografische Ausdehnung viel kleinere Griechenland fühlt sich vom ewigen Erzfeind bedroht.
Orte wie Feres bergen dabei eine enorme Symbolkraft. Erst 1919, fast 100 Jahre nach der griechischen Revolution und dem Freiheitskampf gegen die Osmanen, wurde Feres griechisch. 1923 siedelten sich viele Griechen aus Kleinasien in der heutigen Türkei im Rahmen des im Lausanner Vertrag vereinbarten Bevölkerungsaustauschs auch in Feres an.
Der Grenzzaun ist für die Griechen also nicht nur ein Wall gegen Immigration, sondern auch gegen die zunehmende Aggressivität der Türkei. Erst im Mai waren türkische Elite-Soldaten bei Feres in ein seichtes Gebiet am Evros eingedrungen, das sie für türkisch hielten, die Griechen aber als griechisches Terrain ansehen. Obgleich nur ein paar Meter umstritten sind, sollen Warnschüsse gefallen sein. Und das, obwohl Griechenland und die Türkei seit 1952 Nato-Partner sind.
Auch gegen Athen gibt es Vorwürfe
Aber auch Vorwürfe gegen Athen wurden zuletzt laut. Stichwort „Pushbacks“, also illegale Zurückweisungen von Flüchtlingen, ohne ihnen die Chance zu bieten, einen Asylantrag zu stellen. Das Zurückdrängen an und über die Grenze verstößt gegen das Völkerrecht und die EU-Grundrechte-Charta. Illegale Zurückweisungen sollen die Griechen laut Berichten der „New York Times“ oder des „Spiegel“ schon seit geraumer Zeit im großen Stil in der Ost-Ägäis, aber auch am Evros durchführen.
Die Regierung Mitsotakis bestreitet das vehement – ohne die Vorwürfe fundiert zu widerlegen. Von Falschnachrichten und türkischer Propaganda spricht man in Athener Regierungskreisen. Steht der neue Zaun, werden „Pushbacks“ ohnehin kaum noch nötig sein. Mitsotakis sieht sich im Recht – und kann sich auf die EU-Kommissarin für Inneres, die Schwedin Ylva Johansson, berufen. Johansson antwortete im September auf eine Anfrage der griechischen EU-Abgeordneten Eva Kaili von der sozialdemokratischen „Kinal“-Partei, die Türkei sei als sicheres Land für Flüchtlinge aus Kriegsregionen einzustufen. Für Syrer zum Beispiel.
Nicht nur für Kaili ist seither klar: Wer als Kriegsflüchtling aus der sicheren Türkei die Grenze nach Griechenland illegal überschreite, sei kein Schutz suchender Flüchtling mehr, sondern ein illegaler Migrant ohne das Recht, einen Asylantrag in Griechenland zu stellen. Der Zaun soll das schon vor dem Grenzübertritt klarmachen.
Das Epos vom Evros geht eben weiter. Mit dem Segen der Europäischen Union.