Wenn den Schulen die Luft ausgeht

von Redaktion

VON MARC BEYER

München – Stille kann irritierend sein. Selbst wenn man genau hinhört in Germering, hört man gar nichts. Als Walter Braun von Kollegen darauf angesprochen wurde, dass die neue Lüftungsanlage verdächtig leise sei, hat er nachgehakt. Aber egal, wen der Leiter der Mittelschule im Kreis Fürstenfeldbruck auch fragte, vom Architekten bis zum Planungsbüro, stets bekam er die Antwort: „Wenn man etwas hören würde, hätten wir es falsch eingestellt.“

Nicht nur in den Klassenzimmern ist es still. Auch Reaktionen von Eltern blieben aus – ein gutes Zeichen, denn Schulen sind ein emotionales Epizentrum der Corona-Pandemie. Abstände, Masken im Unterricht und eben die angemessene Belüftung sind Themen, die die Elternschaften spalten können.

In Germering hatte schon vor Jahren die Planung für den Ausbau der Mittelschule und der benachbarten Theresen-Grundschule begonnen. Dass gerade jetzt die „Betreuungsbrücke“ fertig geworden ist, in der die Mittelschüler während der Sanierung ihres Altbaus Unterricht haben, ist in Corona-Zeiten ein Glücksfall. Bis auf ein Kippfenster lässt sich keines der energieeffizienten Fenster mehr öffnen. Dafür gibt es eine moderne Lüftungsanlage. Bis vor ein paar Wochen hat Braun in einem Gebäude gearbeitet, das in den Siebzigern gebaut wurde: „Das hat aus dem letzten Loch gepfiffen.“

Das ist kein Einzelfall. Unzählige Schulgebäude sind alt und marode. Einfach die Fenster aufzureißen, scheitert oft schon daran, dass sie sich aus Altersgründen gar nicht mehr öffnen lassen. Nordrhein-Westfalen musste neulich einräumen, dass in mehr als 500 Schulen Räume auf diese Weise nicht mehr belüftet werden können.

Dass regelmäßiger Luftaustausch Corona-Ansteckungen zu vermeiden hilft, ist längst unstrittig. Schwierig wird es jedoch, wenn im Winter einerseits frische Luft ins Zimmer muss, andererseits die Insassen nicht ständig frieren sollen. Systeme, die Frischluft zuführen, ohne den Raum auszukühlen, sind für die meisten Schulen nicht bezahlbar – ganz abgesehen vom Planungsvorlauf, der ein bis zwei Jahre beträgt.

Bund und Freistaat haben zuletzt Förderprogramme aufgelegt – 500 Millionen Euro schwer das aus Berlin, 37 weitere Millionen das bayerische. Der Bund zielt in erster Linie auf die Auf- und Umrüstung bestehender Anlagen in öffentlichen Gebäuden ab, und beteiligt sich mit maximal 40 Prozent an den förderfähigen Kosten, die bei 100 000 Euro gedeckelt sind.

Aber auch Neuinvestitionen werden gefördert. Sie betreffen vor allem CO2-Sensoren, die die Qualität der Raumluft messen sowie mobile Reiniger. Mit ihnen kann die Luft gefiltert werden, ein Ersatz für Frischluftzufuhr sind die Geräte allerdings ausdrücklich nicht. Die Kultusministerkonferenz bezeichnete die Technologie vor wenigen Wochen vorsichtig als „flankierend und in Einzelfällen sinnvoll“.

Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) denkt bei den vom Bund geförderten mobilen Geräten dann auch in erster Linie nicht an Schulen, sondern an die Gastronomie. Saubere Luft werde in der kalten Jahreszeit „ein wichtiges Argument für verlässliche Gastlichkeit“ sein. „Essen gehen in Bayern war schon immer eine sichere Sache. Durch mobile Luftreiniger wird es jetzt noch sicherer.“ Das war vor dem erneuten Lockdown. Ab Dezember, hoffentlich, werden die Reiniger auch Bar- und Restaurantluft filtern. Auf das regelmäßige Öffnen der Fenster werden die Wirte trotzdem nicht verzichten können.

In den Schulen ist die Situation noch verzwickter. Das 37-Millionen-Paket richtet sich an Schulen, die CO2-Ampeln und Luftreiniger anschaffen wollen. Die Filtergeräte werden jedoch nur unter einer Bedingung gefördert: Das entsprechende Klassenzimmer darf sich nicht (oder nur sehr eingeschränkt) über das Öffnen von Fenstern belüften lassen. Der weitaus größte Teil der Räume kommt damit nicht in Frage. Das erklärt auch, warum Kommunen diese Fördermöglichkeit für ihre Schulen bisher nur sehr zurückhaltend wahrnehmen.

Regine Stoiber hat, wie die Schulplaner in Germering, das Thema Raumbelüftung schon vor Jahren in Angriff genommen. „Damit haben wir einen Riesen-Trumpf im Ärmel.“ Als die Münchner Architektin mit drei anderen Cineasten 2016 das „Neue Maxim“ übernahm, das drittälteste Kino in München, wies ein Lüftungsexperte sie auf ein akutes Defizit hin: „Nach 20 Minuten war der Sauerstoffgehalt so gering, dass das Publikum schläfrig wurde.“

Das „Neue Maxim“ ist zwar dem Namen nach neu, aber die Art Gebäude, die man „altehrwürdig“ nennt. Rund 35 000 Euro haben Regine Stoiber und ihre Mitstreiter vor vier Jahren allein in die Lüftungsanlage gesteckt. Im großen Saal des 104 Jahre alten Kinos, in den etwas mehr als 30 Menschen passen – ähnlich viele wie in ein Klassenzimmer – wird mindestens vier Mal pro Stunde die komplette Luft ausgetauscht. Dabei ist die Anlage nicht annähernd ausgelastet.

Kinos haben es in Corona-Zeiten schwer. Als das „Maxim“ im Juli wieder öffnete, spielte Stoiber deshalb sogar mit dem Gedanken, mit der Raumbelüftung zu werben. Die moderne Technik habe sie in gewisser Weise ja „moralisch ermutigt, wieder aufzusperren“. Am Ende rückte sie von dem Plan aber ab, denn im Kino ist es nicht anders als in der Schule: Die beste Lüftungsanlage ist die, die man nicht bemerkt.

Virenfreie Luft ist in diesen Zeiten nicht nur Luxus, sondern ein hochsensibles Thema. Es gibt Schulleiter, die zu Lüftungsfragen nichts mehr sagen wollen, selbst wenn sie eine Menge zu erzählen hätten. Hinter vorgehaltener Hand weist manch einer aber auf eine spezielle Tücke der Technik hin. Eltern könnten auf die Idee kommen zu fragen, warum einige Klassenzimmer in den Genuss frischer, sauberer, temperierter Luft kommen – ausgerechnet ihr Kind aber nicht.

Wie sehr das Thema Mütter und Väter beschäftigt, zeigt sich auch daran, dass an manchen Schulen Eltern in Eigenregie mobile Luftreiniger anschaffen. An einer Grundschule bei München hat eine erste Klasse seit Kurzem ein solches Gerät. Geräusche macht auch dieses nicht, doch einigen Lehrern ist ein seltsamer Geruch aufgefallen. Die Irritation währte aber nicht lange. „Vielleicht“, gibt ein Pädagoge zu bedenken, „waren das auch nur die Kinder.“

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