München – Prof. Alexander Kekulé von der Universität Halle gehört zu den führenden Virologen Deutschlands. Obwohl er in jüngster Zeit nicht im Fernsehen zu sehen war, da er an seinem neuen Buch schrieb (siehe rechts unten), freut er sich „über jede Talkshow, wo Corona kein Thema ist“. Bei unserem Redaktionsbesuch sprach er trotzdem über die Pandemie, die Versäumnisse der Politik – und wie es in Deutschland weitergehen sollte. Und verriet ganz nebenbei, das er in eine überfüllte S-Bahn nur mit einer sogenannten FFP2-Maske steigen würde: „Ich bin schließlich über 60 Jahre alt.“ Und damit Risikogruppe.
Zum Teil-Lockdown und Weihnachten
„Die aktuellen Beschränkungen reichen nicht – wir brauchen mehr“, sagt Kekulé. Das Ziel müsse sein, unter die Sieben-Tage-Inzidenz von 50 zu kommen, also unter 50 Infektionen pro 100 000 Einwohner. Der Teil-Lockdown habe zwar eine Wirkung, aber das Niveau der Neuinfektionen sei nach wie vor „viel zu hoch für eine Nachverfolgung“. Kekulé fordert daher keinen „politischen gemeinsamen Nenner“, sondern einen „wissenschaftlich fundierten“, zumal das Virus im Winter ein anderes sei als im Sommer: „In der Kälte ist es wesentlich agiler und infektiöser.“ Kekulé: „Wenn wir jetzt nicht bremsen, haben wir an Weihnachten und Silvester massive Ausbrüche im privaten Bereich.“
Kekulé spricht sich für eine bundeseinheitliche Maskenpflicht in geschlossenen Räumen aus – sofern sich dort zwei oder mehr Personen aus verschiedenen Haushalten aufhalten, kein Luftaustausch stattfindet und die Mindestabstände nicht gewährleistet sind; dies gelte auch fürs Taxi oder im Führerhaus eines Lkw. „Damit verhindern wir ein Superspreading – und es tut niemandem ernstlich weh.“ Draußen müsse man indes „nicht päpstlicher sein als der Papst“. Hier sei die Infektionsgefahr sehr gering.
Allerdings: Die aktuelle Regelung, wonach sich maximal zehn Personen aus zwei Haushalten treffen dürfen, sollte auf fünf Personen abgesenkt werden. „Das ist zwar nur die schwächste aller Waffen, sie hätte jedoch eine gewisse Signalwirkung, um die Ernsthaftigkeit des Problems immer wieder in die Köpfe der Leute zu bringen“, sagt Kekulé.
Von der Ein-Freund-Regelung, wonach sich Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit nur mit einem festen Freund treffen dürfen, hält er indes nichts. „Das war ein Schnellschuss. Ich denke, diese Idee besteht den Praxistest nicht.“ Das funktioniere in Gegenden wie Kanada, in denen Menschen weit verstreut auf großen Flächen leben. „In unserer Gesellschaft ist es nicht umsetzbar.“ Grundsätzlich sollte man sich überlegen, mit wem man bezüglich Covid-19 eine Risikogemeinschaft bilden möchte. Oder, noch einfacher: „Umarme nur Menschen, mit denen du bereit bist, Viren auszutauschen.“
Zum Schutzkonzept für Risikogruppen
„Wir brauchen einen deutlichen Ausbau des Schutzkonzeptes in Alten- und Pflegeheimen“, sagt Kekulé. „Und dieses Konzept hätte man auch schon vor dem ersten Shutdown haben können.“ Aus dem chinesischen Wuhan war bereits Mitte Januar bekannt, dass das neuartige Coronavirus vor allem für ältere Menschen über 65 besonders gefährlich ist. Später gab es diese Erkenntnisse auch aus Nord-Italien. „Manchmal braucht die Politik aber zwei Hallo-Wach-Tabletten“, sagt Kekulé. Dass bislang kein Konzept vorliege, sei allerdings ein „Armutszeugnis“: „Ich habe kein Verständnis für Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der erst Mitte Oktober die Finanzierung von Schnelltests für Altenheime geregelt hat.“ Denn: „Das Virus wartet nicht auf Politiker. Die Natur ist gnadenlos. Diese Katastrophe war vorhersehbar.“
Tatsache ist: „Bei Ausbrüchen in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen ist die Sterblichkeit mit Abstand am höchsten.“ Würde man diese komplett in den Griff bekommen, würde die Sterblichkeit bei Covid-19 nicht höher ausfallen als bei einer schweren Grippe (Influenza).
Der Virologe fordert daher: Das Personal in Krankenhäusern sowie Alten- und Pflegeheimen plus deren Familien müssten zweimal pro Woche per PCR-Test getestet werden. Das Personal müsste im Dienst sogenannte FFP2-Masken tragen und gängige Verhaltensregeln auch im Privaten einhalten. Zudem sollte jeder Besucher auch eine sogenannte FFP2-Maske tragen. Und einen PCR-Test (nicht älter als 48 Stunden) vorweisen können oder sich einem Schnelltest an der Pforte unterziehen. „99 Prozent der dortigen Infektionsfälle ließen sich so verhindern.“
Weiterhin fordert Kekulé einen „Geleitschutz“ von Besuchern bis zum Zimmer des Angehörigen. „Am besten nichts anfassen!“ Was dann aber zwischen den Angehörigen geschehe, ob sie den Mund-Nasen-Schutz aufbehalten oder sich gar umarmen, sei privat. „Hier hört das Wächteramt des Staates auf“, sagt er. Und: „Es darf auch nicht sein, dass Menschen alleine, ohne ihre Angehörigen, sterben müssen.“
Zu Schulen und Kindergärten
Kekulé spricht sich für eine „Maskenpflicht an weiterführenden Schulen“ aus, also ab Jahrgangsstufe 5. Ältere Kinder und Jugendliche seien infektiös „und wir sehen massive Ausbrüche“. Das sei „ein gefährliches Alter, auch wenn die Betroffenen selbst kaum Symptome haben“.
Aus Sicht von Kekulé gebe es vor allem ein großes Problem „nach der Schule“, also im Freizeitbereich. Er fordert: „Sekundarstufe, also ab Klasse 5, eine Woche vor Weihnachten schließen – und die Eltern müssen dafür sorgen, dass sich die Kinder nicht privat treffen, dass sozusagen eine Adventsquarantäne eingehalten wird.“ Zudem sollte sofort auf Hybrid-Unterricht umgestellt werden, wo dies organisatorisch machbar ist; sprich: Die Klassenstärken teilen und die Hälfte der Schüler im Wechsel digital unterrichten, während die andere Hälfte im Präsenzunterricht sitzt.
All diese Maßnahmen sollten aber explizit nicht für Kitas und Grundschulen gelten, also für Kinder bis zehn Jahre. Denn: „Kleinere Kinder infizieren sich zwar auch, aber sie stecken nur selten jemanden an.“ Kekulé hat dafür zwei Theorien. Erstens: Die sogenannte angeborene Immunantwort der Kleineren ist im Dauerbetrieb – wenn Covid-Erreger angeflogen kommen, wird das Immunsystem daher schnell mit ihnen fertig. Wenn Kinder infektiös seien, dann wohl nicht sehr stark und nur kurze Zeit. Zweitens: Jüngere Kinder stehen ständig im Dauerfeuer mit anderen Krankheitserregern – und haben so ein ständig aktiviertes Immunsystem. „Grundschulen und Kitas können bis Weihnachten offen bleiben“, sagt Kekulé daher.
Zur Ansteckung und „Superspreadern“
„80 Prozent der Infektionen erfolgen wahrscheinlich aerogen, also über Aerosole“, sagt Kekulé. „Nur 20 Prozent via Tröpfcheninfektion.“ Über Singen oder lautes Sprechen kann somit ein einziger Infizierter locker 50 Leute anstecken – und er ist damit ein sogenannter „Superspreader“. Dafür müsse der Betroffene allerdings „hochinfektiös sein, was man jedoch in der Regel nur einen Tag lang ist – und das gilt auch längst nicht für jeden Infizierten“. Solche „Superspreader-Events“ ereigneten sich auch nicht im Freien und nicht dort, wo alle Alltagsmasken tragen. Kekulé sieht etwa auch in großen Kirchen keine besondere Infektionsgefahr, da dort ein reger Luftaustausch herrsche. Verkürzt lässt sich sagen: „Acht von zehn Infektionen gehen wahrscheinlich auf das Konto von Superspreadern.“ Wann man tatsächlich ansteckend ist, lässt sich noch nicht ganz genau sagen.
Laut Kekulé ist man am Tag vor den ersten Symptomen nicht automatisch besonders infektiös – die Kurve steige aber irgendwann plötzlich an. Meist beginne Covid-19 wie eine leichte Erkältung: mit Halsschmerzen, Kopfweh, Mattigkeit. „Ich empfehle daher, bei diesen Symptomen vorsichtshalber erst einmal zu Hause zu bleiben.“ Verschwinden sie im Laufe des Tages, sei es mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Covid-19. Denn diese Krankheit entwickle sich in der Regel kontinuierlich. „Bei Covid-19 bleiben die Symptome und verstärken sich.“ Die Zahl der asymptomatisch Infizierten, also Infizierten ohne Symptome, sei Kekulé zufolge nicht so hoch wie manchmal behauptet. Es sei oft die Rede von 50 Prozent. Befragt man die Betroffenen jedoch genauer, würden sich die meisten dann aber doch an leichte Symptome erinnern, die sie nur nicht besonders ernst genommen hätten – wie leichte Hals- oder Kopfschmerzen.
Zu Lockerungen ab Januar
Kekulé hat ein Dauerkonzept für „essenzielle Bereiche“ entwickelt. Dieses sieht eine Maskenpflicht vor für alle, und zwar unter anderem im öffentlichen Nahverkehr, an Schulen und Universitäten, in Läden und Ämtern. „Eigenverantwortung ist hier gefragt!“ Er fordert zudem einen Schutz von Risikogruppen durch die sogenannten FFP2-Masken – und lobt das Bremer Konzept, wo gerade alle Menschen ab 70 Jahren umsonst diese Masken gestellt bekommen. Auch sollte jeder Zugang zu Antigenschnelltests haben; sie sollten für einen Euro in Apotheken erhältlich sein. „Ich hoffe, dass Ende des nächsten Jahres der Corona-Spuk vorbei ist – wenn das mit den Impfungen alles gut klappt“, sagt Kekulé.
Das ständige Auf und Ab der Beschränkungen hält er indes für „gefährlich“. „Die Leute werden sauer. Man sollte lieber versuchen, eine kontinuierliche Beschränkung für alle zu halten.“ In „nicht essenziellen Bereichen“, wie Kinos, Theater, Fitnessstudios oder Speiselokalen, sollten Bürger entscheiden, ob sie hingehe oder nicht. „Alles unter 20 Personen oder im Freien halte ich für unbedenklich. Das sollte der Staat in ,nicht essenziellen Bereichen’ auch nicht regulieren“, sagt Kekulé. BARBARA NAZAREWSKA, DORITA PLANGE, ANDREAS BEEZ