München/Bozen – Arno Kompatscher ist zufrieden. Von einem „großartigen Ergebnis“ spricht der Südtiroler Landeshauptmann am Sonntagabend. Und von einem „starken Land“ mit „großem Zusammenhalt“. Tatsächlich hat die autonome norditalienische Provinz Bozen-Südtirol in drei Tagen etwas vollbracht, über dessen Sinn nun das europäische Ausland grübelt. Südtirol hat einen Corona-Massentest durchgeführt.
Die Zahlen klingen beim ersten Hinhören gar nicht so dramatisch: 21 460 Corona-Infektionen gab es in Südtirol bisher, 474 Menschen starben, 10 060 waren am Sonntag in Quarantäne. Gemessen an der Einwohnerzahl von gerade mal 521 000 ist die Lage aber ziemlich ernst. Die 7-Tage-Inzidenz lag in Südtirol gestern bei 730 – in Deutschland waren es nur 143.
Für Südtirol geht es um viel. Die Wintersaison geht los und ohne Touristen droht ein wirtschaftliches Desaster. Wohl auch deshalb beteiligten sich die Bürger so stark an dem von der Regierung initiierten Massentest. Rund 342 000 Südtiroler traten freiwillig zum Antigen-Schnelltest an – die Zielmarke waren 350 000. Ergebnis: Bei 3185 Getesteten wurde eine Corona-Infektion festgestellt – also bei etwa einem von 100.
Aber was bedeutet das? Und wäre der Südtiroler Massentest eine Blaupause für Bayern oder sogar ganz Deutschland?
Kompatscher will am Sonntag keine Zweifel an der Sinnhaftigkeit aufkommen lassen. „Über 3000 positiv Getestete mögen wenig erscheinen, aber bei einer Reproduktionszahl R von 1,5, wie letzthin in Südtirol, würden diese potenziell 4500 weitere anstecken, die dann 6750 anstecken, womit man in einer Woche theoretisch auf mehr als 95 000 Ansteckungen hätte kommen können“, rechnet der Landeshauptmann der Südtiroler Presse vor.
Nun sind die 3185 potenziellen Virusverbreiter also in Quarantäne. Südtirol habe die Kontrolle über das Virus zurück, sagt Kompatscher – und macht Hoffnung, die Provinz „schrittweise ab dem 30. November wieder öffnen zu können“. Kindergärten und Grundschulen gehen bereits ab heute wieder in den Präsenzunterricht, Mittel- und Oberschulen sollen Ende November folgen.
Der Erfolg eines Massentests hängt laut Experten stark von einer hohen Teilnahmequote ab. In der Slowakei, wo es bereits große Reihenuntersuchungen gab, sind gerade neue lokale Testreihen angelaufen. Rund 400 000 Menschen in knapp 500 Gemeinden mit vorher besonders hohen Infektionsraten sollen überprüft werden – anders als beim Auftakt diesmal freiwillig. Die Teilnahme sackte stark ab. Regierungschef Igor Matovic drohte im Fernsehen wieder mit Sanktionen – was umgehend für Streit sorgte. Der liberale Wirtschaftsminister Richard Sulik stellte gestern das gesamte Pandemiekonzept infrage: „Der Kampf gegen das Coronavirus verläuft chaotisch und ignoriert die Meinungen von Experten.“
Kritiker bemängeln zudem, dass Antigen-Schnelltests nicht verlässlich genug seien. Sie sind weniger empfindlich als ein PCR-Test – liefern dafür aber schon in 15 bis 30 Minuten ein Ergebnis. Antigen-Schnelltests erkennen das Virus recht sicher in der Phase, in der ein Patient besonders ansteckend ist, nicht aber im Anfangs- und Spätstadium der Erkrankung. Ein negatives Ergebnis schließt eine Infektion also keineswegs aus (siehe Kasten). Dennoch: Südtirol konnte über die Schnelltests über 3100 Infizierte isolieren und Infektionsketten brechen.
Die Bevölkerung einmal komplett durchzutesten – in Deutschland scheitert das an der Testkapazität. Pro Tag können die Labore laut Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) aktuell gut 307 000 Proben untersuchen. Die Deutschen einmal durchzutesten, würde demnach neun Monate dauern, und da sind akute Fälle gar nicht eingerechnet.
Auch in Bayern mit seinen 13,1 Millionen Bewohnern, wo ohnehin schon mehr getestet wird als anderswo, gebe es deshalb keine Pläne für einen Flächentest, heißt es aus der Staatsregierung. Zudem ist unklar, wie viele Menschen freiwillig mitmachen würden. Ein Test-Zwang wäre hierzulande kaum denkbar.
Auch Eugen Brysch, Vorstand der Stiftung Patientenschutz, hält Massentests in Deutschland für ein „Strohfeuer“. „Denn Infektionsgrundschutz, Kontaktdokumentation und laborgestützte PCR-Tests können so nicht ersetzt werden“, sagte er am Samstag. Es bestehe vielmehr die Gefahr, dass infizierte Menschen sich wegen eines negativen Tests fälschlicherweise in Sicherheit wiegen.
Der Massentest sei „kein Allheilmittel und auch nicht die Lösung des Problems“, räumt Arno Kompatscher ein. Aber die Aktion könne helfen, „den Lockdown zu verkürzen“. Weitere Screenings sollten folgen. „Genau jetzt heißt es, besonders diszipliniert zu sein, um das gemeinsam Erreichte nicht zunichte zu machen.“