München – Immer mehr Menschen suchen im Internet nach Krankheitssymptomen; 46 Prozent, heißt es, würden regelmäßig nach Beschwerden googeln. Wohlgemerkt mit negativen Folgen für die eigene Gesundheit. Denn: Dr. Google ist ein schlechter Arzt – er macht einen in der Regel viel kränker. Forscher der Universität Köln haben dieses Phänomen sogar jüngst untersucht und dabei festgestellt: Fünf Minuten bei Dr. Google genügen, um das allgemeine Unwohlsein zu steigern. Aber ist es wirklich so schlimm? Wir fragten bei einem echten Arzt nach: Professor Jörg Schelling, der Allgemeinmediziner in einer Gemeinschaftspraxis in Martinsried im Kreis München ist.
Kann Dr. Google einen Arztbesuch ersetzen?
Nein, bei einem konkreten Anliegen empfehle ich immer einen persönlichen Arztbesuch. Viele googeln trotzdem erst mal.
Wie viele Menschen kommen mit solchen Selbstdiagnosen in Ihre Praxis?
Bei den jüngeren Patienten bin ich mir sicher, dass sich mindestens die Hälfte vor einem Arztbesuch mithilfe von Google oder Apps informiert hat. Dass die Patienten das aber auch offen sagen, ist eher eine Seltenheit. Als Arzt spürt man aber natürlich, wenn sich Patienten vorab informiert haben – sie stellen beispielsweise sehr spezifische Fragen …
Und ältere Patienten?
Die googeln tendenziell weniger, da hier ein größeres Grundvertrauen in Mediziner herrscht. Doch auch die ältere Altersgruppe beginnt nun verstärkt im Internet zu recherchieren. Aber dass tatsächlich jemand offen sagt: „Ich hab das gegoogelt“, also das kommt vielleicht bei zehn Prozent der Patienten vor. Das liegt wohl daran, dass die Leute immer noch Angst haben, sich damit lächerlich zu machen. Manche sprechen es auch aus Höflichkeit gegenüber dem Arzt nicht an, weil sie die Kompetenz des Arztes nicht infrage stellen wollen.
Mal ehrlich: Glaube ich den Ergebnissen auf Google, dann bin ich meistens entweder schwanger oder ich habe Krebs …
Das Problem ist, dass Krankheiten unspezifisch beginnen. Lassen Sie mich das mit einer Metapher erklären: Hören wir Hufgetrappel, ist das in unseren Breitengraden meist auf ein Pferd zurückzuführen, nicht etwa auf ein Zebra. Recherchen im Internet führen jedoch häufig dazu, dass man bei der Suchanfrage „Hufgetrappel“ die Antwort „Zebra“ bekommt. Konkret heißt das: Bei 1000 Patienten mit Schwindelgefühl hat vielleicht einer einen Hirntumor – aber ein Patient mit nachgewiesenem Hirntumor hatte garantiert im Verlauf seiner Krankheit auch mal ein Schwindelgefühl. Deshalb taucht bei Google dann auch „Schwindel“ als Symptom für einen Hirntumor auf.
Schwierig.
Bei Google wird inzwischen versucht, Gesundheitsinformationen durch spezielle Kennzeichnungen seriöser aufzubereiten. In der Medizin gibt es aber eben auch Interessengruppen, die eine Extrem-Meinung vertreten und die Medien zur Verbreitung eben dieser Meinung (aus)nutzen. Für eine Suchmaschine wie Google ist es daher sehr schwierig, so etwas zielführend zu steuern – es ist quasi unmöglich für medizinische Suchanfragen passende Algorithmen zu bilden.
Stört es Sie persönlich, wenn Patienten mit selbst gestellten Diagnosen in Ihre Praxis kommen?
Mich persönlich stört das überhaupt nicht – es gibt aber eine Generation von älteren Kollegen, die sich dann womöglich auf den Schlips getreten fühlen. An dieser Stelle aber ein ganz klarer Appell meinerseits: Sprechen Sie ihre Recherche ruhig offen an! So können Ihnen im Zweifelsfall auch konkrete Ängste genommen werden. Manchmal kommen die Leute auch auf Dinge, an die man selbst gar nicht gedacht hätte. Da hat man auch als Arzt eine Lernkurve, denn auch wir Ärzte wissen nicht alles.
Welche Krankheitssymptome werden denn besonders gern „ergoogelt“?
Konkrete Symptome, wie zum Beispiel ein Brennen beim Wasserlassen, werden kaum gegoogelt. Da ist den meisten Patienten klar, dass das was Akutes sein muss und sie zum Arzt gehen sollten. Es sind vielmehr diffuse, häufig auch psycho-somatische Symptome wie Müdigkeit oder Abgeschlagenheit. Auch bei vermeintlich peinlichen Dingen, wie einer Entzündung im Genitalbereich oder Hämorriden, wird vorab gern gegoogelt.
Fallen Selbstdiagnosen schlimmer aus als die eigentliche Krankheit?
Selbstdiagnosen fallen im Regelfall immer schlimmer aus, weil das Internet da einfach ein großes Spektrum an „wilden“ Sachen und Verläufen bietet.
Fördert das Googeln von Symptomen und Krankheiten eigentlich die Hypochondrie, sprich: Fühle ich mich danach kränker als ich es in Wirklichkeit bin?
Ja, definitiv kann es dieses Gefühl fördern. Vor allem bei Patienten mit einer psychischen Grundproblematik!
Wann ist „Symptome-Googeln“ sinnvoll – und wann ist es gefährlich?
Es ist vor allem bei neurotischen Störungen gefährlich. Gerade auch im Bereich der psychischen Erkrankungen muss man sehr aufpassen. Da sollte man durch eine Internet-Recherche nicht noch zusätzlich in eine Spirale aus Sorge und Angst hineingeraten. Hierbei ist es wirklich wichtig, mit einem Fachmann zu sprechen, der Sorgen entsprechend „runterregeln“ – und beruhigen kann. Allerdings kann sich das als sehr schwierig gestalten! Sagen sie mal einem Neurotiker, dass er nicht weiter nach Krankheiten suchen soll. Natürlich wird er trotzdem verzweifelt weitersuchen, komme was wolle, denn – solche Menschen haben einfach Angst. Grundsätzlich gibt es aber kaum ein Krankheitsbild, zu dem man im Internet nicht auch seriöse Informationen finden kann. Man muss nur wissen, wie man an seriöse Informationen kommt.
Was war denn eigentlich die kurioseste Selbstdiagnose, mit der Sie konfrontiert wurden?
Relativ absurd ist der Protozoen-Wahn, den manche Patienten betreiben. Dabei denken sie, dass kleine Tierchen und Lebewesen unter ihrer Haut leben. Da werden dann Hautschuppen gesammelt und teilweise selbst unterm Mikroskop untersucht. Die Patienten sind dann wirklich der Meinung, dass irgendetwas auf ihnen kreucht und fleucht. Eine Selbstdiagnose wie diese wirklich ernstzunehmen und im weiteren Verlauf auch auf eine gerade Bahn zu bringen, ist für medizinisches Personal schon eine Herausforderung. So etwas mag unterhaltsam klingen, aber dahinter steht oft ein enormer Leidensdruck der Patienten, weil man als Arzt eben nichts findet – weil’s eben auch nichts zu finden gibt.
Sind die meisten Patienten wenigstens einsichtig, wenn sich eine Selbst- diagnose als absolut falsch herausstellt?
Die Menschen kommen in die Praxis, damit sie noch mal eine Expertenmeinung hören. Da ist dann normalerweise von beiden Seiten eine Bereitschaft und Offenheit da. Hier nimmt ein Großteil der Patienten Ratschläge an. Mein Gefühl als Hausarzt ist: Wenn die Patienten die Karten offen auf den Tisch legen und man vernünftig miteinander redet, wird alles ins richtige Licht gerückt.
Interview: Anna Tratter