Bonn – Als erster westdeutscher Regierungschef nach dem Zweiten Weltkrieg reist Brandt nach Warschau. Er will den umstrittenen Vertrag unterzeichnen, mit dem die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens akzeptiert. Doch das gerät an diesem 7. Dezember 1970, vor 50 Jahren, fast in Vergessenheit.
Denn Brandts Wagenkolonne macht Halt vor dem Warschauer Ehrenmal für den Aufstand im jüdischen Ghetto von 1943. Der Kanzler legt den Kranz für die Opfer nieder, zupft die schwarz-rot-goldene Schleife zurecht und tritt zurück. Und dann fällt er ohne Vorankündigung auf dem nass-glänzenden Granit auf die Knie – und verharrt so eine endlose halbe Minute lang. Das Gesicht bewegungslos, der Blick in die Ferne gerichtet. Vielen der fröstelnden Zuschauer stockt der Atem. Selbst engste Vertraute wussten nicht Bescheid.
„In dem Moment, als wir ausstiegen und vor das Mahnmal traten, war die Stimmungslage sehr überwältigend“, erinnerte sich der damalige Außenminister Walter Scheel (FDP) 2010. „Plötzlich sank Willy Brandt auf die Knie, und jeder Mensch, der anwesend war, hätte es ihm gleichtun wollen, und jeder hat diese Geste, diese vollkommen ungeplante und spontane Geste, für einzigartig und beeindruckend empfunden.“
Kein anderes Bild von Brandt hat sich so stark eingeprägt. Eine Ikone. Seit 2000 erinnert unweit des Ghetto-Denkmals auf dem heutigen Willy-Brandt-Platz ein Bronzerelief an den historischen Moment. Wobei der Kniefall bis heute unterschiedlich interpretiert wird: zumeist als Versöhnungsgeste an die Adresse Polens und anderer Opfer des Vernichtungskriegs. Aber auch als Signal an Israel und das jüdische Volk.
„Immer wieder bin ich gefragt worden, was es mit dieser Geste auf sich gehabt habe. Ob sie etwa geplant gewesen sei? Nein, das war sie nicht“, versicherte Brandt in seinen Memoiren. Seinem engsten Vertrauten Egon Bahr sagte er am Abend: „Ich hatte das Empfinden, ein Neigen des Kopfes genügt nicht.“
Das war, aus der Rückschau von Scheel, was Brandt auszeichnete: „Es war eine dieser Fähigkeiten Willy Brandts, die ich bei ihm so sehr geschätzt habe, die Menschen emotional anzusprechen und für alle erkennbare Zeichen zu setzen“, schrieb der FDP-Politiker 2010 in einem Brief. „Ich habe keinen Politiker erlebt, der vergleichbar gewesen wäre.“
Verwunderung im In- und Ausland erregte die Tatsache, dass ausgerechnet der Antifaschist Brandt, der als Emigrant keine Verantwortung für die Verbrechen der Nazis trug, Verantwortung für die deutsche Vergangenheit übernahm. „Spiegel“-Journalist Hermann Schreiber, der vor Ort war, schrieb, Brandt habe für Deutschland gekniet: „Wenn dieser nicht religiöse, für das Verbrechen nicht mitverantwortliche, damals nicht dabei gewesene Mann nun dennoch auf eigenes Betreiben seinen Weg durchs ehemalige Warschauer Ghetto nimmt und dort niederkniet – dann (…) bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selber nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selber nicht bedarf.“
International wurde der Kniefall als die Geste zur Versöhnungsbereitschaft gewertet. Das „Time“-Magazin erklärte Brandt zum „Mann des Jahres“ 1970, ein Jahr später erhielt der Kanzler den Friedensnobelpreis. Dennoch sorgte die Geste auch für Irritationen. In der Bundesrepublik war die Stimmung wegen der Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition stark polarisiert. Manchen Konservativen und Heimatvertriebenen galt Brandt wegen des vermeintlichen Verzichts auf die deutschen Ostgebiete als Vaterlandsverräter.
Kein Wunder, dass die Bundesbürger auch über den Kniefall sehr unterschiedlich dachten. Das Institut für Demoskopie in Allensbach ermittelte im Dezember 1970, dass 41 Prozent der Befragten die Geste Brandts für angemessen hielten; 48 Prozent fanden sie übertrieben.
Jeder Anwesende wollte es ihm gleichtun
Die Deutschen waren geteilter Meinung