München – In der Erinnerung an epochale Seuchen nimmt die Pest zweifellos den ersten Rang ein. Ein halbes Jahrtausend lang quälte der „Schwarze Tod“ die Münchner. Der erste Eintrag in der Münchner Seuchenchronik datiert vom Jahre 1211. Ob es sich bei dieser „pestilentia magna“ bereits um die richtige Pest handelte, ist nicht mehr feststellbar. Doch als „maxima pestilenzia“ kehrte die Pest in ihrem teuflischen Kreislauf viele Male wieder.
So forderte sie 1348/49 große Verluste. Annalen sprechen von einem Drittel der Bevölkerung, das von der auch als „crudelissima pestilenzia“ bezeichneten Pandemie hingerafft wurde. Auch Braunau am Inn und Landshut waren damals schwer von der Pest betroffen.
Die Menschen wussten noch nichts von den mikrobiellen Ursachen und fahndeten nach Schuldigen. Gefunden wurden sie in den Juden. In München und anderen Städten wurden Juden verbrannt, abgeschlachtet und zerstückelt.
1356, 1358, 1420, 1430, 1484 und in vielen weiteren Jahren wütete die Pest erneut in der Stadt. 1356 und 1358 kam die Plage in Begleitung heftiger Erdbeben. Auch Missernten und Hunger kamen der Seuche entgegen. 1430 sollen 3000 Tote gezählt worden sein. 1475 ist das Ausräuchern der Häuser belegt, um die Pest zu vertreiben.
Stets brachte die Seuche Marktleben und Handel zum Erliegen und führte zu einer Teuerungswelle. Um die Bürger zu entlasten, beschloss der Rat der Stadt München, für 1483 keine Steuern zu erheben. Zu diesem Zeitpunkt hatten die meisten Räte aus Angst vor einer Ansteckung die Stadt bereits verlassen.
„Brechenbader“ isolieren die Kranken
Seit Ende des 14. Jahrhunderts wurden Hebammen von der Stadt dafür bezahlt, dass sie den Kranken die Pestbeulen aufschneiden – frühe Heldinnen des Seuchenalltags. So konnten sie auch nachverfolgen, wer mit Infizierten Kontakt gehabt hatte. Das Stadtbruderhaus diente als Pestkrankenhaus.
Die während der Wirrnisse des Dreißigjährigen Krieges 1634 eingeschleppte Pest gehört wohl zu den schlimmsten Katastrophen, die München je heimsuchten. Sie kostete vermutlich 7000 Menschen das Leben – ein knappes Drittel der Stadtbevölkerung. Als Seuchen-Task-Force fungierten nun die sogenannten. Brechenbader (Brechen ist Gebrechen). Sie kümmerten sich um die Kranken und trennten diese von den nicht infizierten Familienmitgliedern. Die Pestkranken kamen in ein „Brechhaus“ vor den Mauern der Stadt. Das 1573 erstmals erwähnte Brechhaus lag in der Nähe der Isar und des Pestfriedhofs, des heutigen Alten Südlichen Friedhofs. Dieser wurde 1573 vor dem Sendlinger Tor angelegt, da man die Toten aus Angst vor Ansteckung nicht innerhalb der Stadtmauern beerdigen wollte.
Beten und Wallfahren gegen die Pest
In solch archaischer Gefahr suchten die Menschen beim Beten Zuflucht und veranstalteten Bittprozessionen. Zur Wallfahrt gegen die Pest ging es in den 1480er-Jahren auf den Heiligen Berg von Andechs oder in München einfach zum Ebersberger Klosterhaus am Sebastiansplatz. Dessen Patron, der heilige Sebastian, wurde als Nothelfer in Zeiten der Pest angerufen.
Ein anderer Schutzpatron für solche Fälle war der heilige Rochus. In der Münchner Rochusstraße erinnert heute noch eine Tafel an das 1589 von Herzog Wilhelm V. gestiftete Spital. 1501 arrangierte die Stadt auch große Pestprozessionen nach Thalkirchen oder Ramersdorf – und hoffte auf ein Wunder der heiligen Maria.
Doch vertrauten die Menschen nicht nur auf überirdische Hilfe. Ab dem 14. Jahrhundert versuchte die Stadt, Seuchen mit allen Mitteln einzudämmen. Experten wurden als Stadtärzte angestellt. 1318 leistete sich die etwa 10 000 Einwohner zählende Stadt München mit „magister berchtoldus“ erstmals einen eigenen Stadtarzt. Er legte alle Maßnahmen gegen die Pest fest. Dazu gehörten schon bald die lückenlose Überwachung aller Bewohner jedes einzelnen Hauses in der verpesteten Stadt, die Isolation von Erkrankten, die Desinfektion von Häusern, Waren und Krankenstuben, die Meldepflicht und eine straffe Kontrolle von Handel und Personenverkehr.
War alles vorbei, atmeten die Menschen auf. Glaubt man der Überlieferung, so geht der Schäfflertanz auf eine frühere Pestepidemie zurück. Mit ihrem barocken Zunfttanz wollten die Schäffler das durch die Seuche lahmgelegte öffentliche Leben wieder in Gang bringen und die verängstigten Menschen auf die Straße locken. Erstmals nachgewiesen ist der Münchner Schäfflertanz 1702. Der Legende nach fand er erstmals 1517 statt. Belege dafür gibt es aber nicht. Auch eine der vier Putten der 1638 errichteten Mariensäule am Münchner Marienplatz erinnert an den Kampf gegen die Pest. Der Basilisk, ein Fabelwesen, symbolisiert dabei die tödliche Seuche.
Kaum ist die Pest weg, kommen die Pocken
Während die Pest langsam aus dem Bewusstsein der Menschen verschwand, lauerten schon die Pocken. Erstmals in München für das Jahr 1499 belegt, kamen sie immer wieder vereinzelt zum Vorschein, bevor sie dem 18. Jahrhundert ihren Stempel aufdrückten.
Mozart machte 1767 im Alter von elf Jahren die Pocken durch, allerdings nicht in München. Die Pockenmortalität in Deutschland betrug nach einer seriösen Schätzung Ende des 18. Jahrhunderts jährlich an die 72 000 Menschen. 1799 sollen in München mehrere Tausend an den Blattern gestorben sein, wie man die Pocken auch nannte. Der Stadtrat ordnete an, dass jeder, der die Blattern hat, daheim bleiben und sich nicht unter das Volk mischen solle. Zur Vermeidung von Pockennarben empfahlen die Experten das Bestreichen des Gesichts mit Öl aus süßen Mandeln.
Als Pionier lancierte der Münchner Arzt Franz Seraph Giel ab 1801 die von der Regierung geförderte Einführung der neuartigen Pockenimpfung. Die von dem englischen Arzt Edward Jenner entwickelte Impfmethode mit dem ungefährlichen Kuhpockeneiter wurde in München zunächst an den Kindern im Waisenhaus erprobt.
Mit der Verpflichtung von Franz Seraph Giel als zentralem Impfarzt für Bayern am 15. Februar 1804 kam grundsätzlich auch eine Medizinalgesetzgebung zur Vorsorge und Prävention ansteckender Krankheiten in Gang. Mit dem Impfgesetz vom 26. August 1807 führte Bayern als erstes deutsches Land einen Pockenimpfzwang ein. Für die Impfkosten kamen Staat und Kommunen auf. Zur Herstellung und Verteilung des Impfstoffes entstand in München eine zentrale Impfanstalt. So hatte man die Blattern schon nach wenigen Jahren weitgehend im Griff.
Dreimal die Cholera – 1836, 1854 und 1873
Kaum hatten die Pocken durch die Impfung ihren Schrecken verloren, drohte aus Asien neues Ungemach. Von Indien aus hatte sich die Cholera um 1820 auf Reisen gemacht und überrollte im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in mehreren Pandemien Europa und die ganze Welt. Hygienische Missstände förderten die rasante Ausbreitung.
1836 erfasste die Cholera erstmals auch Bayern. In München dauerte die Epidemie von Oktober 1836 bis Januar 1837. Mit einem Netz ärztlicher Spezialpraxen gelang eine effiziente Primärversorgung. Doch mussten von 2018 amtlich registrierten Cholerapatienten 400 hospitalisiert werden, von denen 149 starben. Das Allgemeine Krankenhaus der Stadt war mit 600 Betten im Normalbetrieb gut gerüstet. Als Notspital wurde noch das Palais des Grafen Arco an der Maffeistraße hergerichtet.
Vom September 1854 bis Januar 1855 und vom Juni 1873 bis April 1874 überrollten die nächsten Cholerawellen München, wobei auch das Oktoberfest abgesagt werden musste. Erneut war das universitär genutzte Städtische Krankenhaus am Sendlinger- Tor-Platz ein Schwerpunkt in der stationären Versorgung.
Im Gegensatz zu 1836 hielt man die Cholera nun für hochansteckend und desinfizierte die Ausscheidungen der Patienten. Wieder flüchteten viele aus der verseuchten Stadt auf das als sicherer geltende Land. Der königliche Leibarzt Franz Xaver von Gietl (1803-1888), der den Hofstaat in die ländliche Abgeschiedenheit nach Berchtesgaden begleiten sollte, hielt es freilich für ein verhängnisvolles Signal, wenn Ärzte in diesen Zeiten die Stadt verließen.
Auch Königin Therese stirbt an der Cholera
Prominentestes Todesopfer der Cholera war am 26. Oktober 1854 Königin Therese von Bayern (1792–1854), Gattin von Ludwig I. Die damals 62-Jährige hatte Anfang Oktober an einem großen Dankgottesdienst auf dem Marienplatz teilgenommen, mit dem das vermeintliche Ende der Seuche gefeiert wurde – verfrüht, wie sich herausstellte.
Während der letzten Münchner Choleraepidemie 1873/74, die von Wien und Passau eingeschleppt worden war, registrierten die Behörden in München 3040 Cholerakranke mit 1460 Todesfällen, was einer Letalität von fast 50 Prozent entspricht.
Eine Intensivmedizin gab es noch lange nicht. Auch war die Frage der Ansteckung ungeklärt, die Cholera ein „Mysterium“. Erst zehn Jahre später, 1883, fand Robert Koch den Choleraerreger. Unter den Hygienemaßnahmen des Münchners Max von Pettenkofer verschwanden die großen Seuchen wie die Cholera, und auch der endemische Typhus nahm rapide ab.
Die Influenza fordert weit weniger Tote
Kaum cholerafrei, meldete sich mit der Influenza 1889/90 eine Krankheit zurück, die München schon in den frühen 1780er-Jahren getroffen und vermutlich zwei Drittel der Einwohner krank gemacht hatte. In der ersten großen Influenza-Pandemie der Moderne von 1889/90 steckte sich ein Drittel der Münchner Bevölkerung mit der Grippe an. Der erste Fall wurde am 17. Dezember 1889 in das Städtische Krankenhaus links der Isar eingeliefert, am Neujahrstag 1890 lagen dort 470 Patienten stationär mit der Diagnose „Katarrhfieber (Grippe) und Influenza“. Im weiteren Verlauf zählte man etwa 1000 Neuzugänge, wobei Ende Februar 1890 das Schlimmste überstanden war. Nur fünf Patienten verstarben im Klinikum.
Spanische Grippe ereilt Nuntius Pacelli
Weitaus schlimmer wütete die nicht mit einer Erkältung zu verwechselnde Influenza ab dem Sommer 1918 erneut in München. Als sogenannte Spanische Grippe ging diese schlimmste Grippe-Pandemie aller Zeiten mit einem weltweiten Massensterben einher. In Bayern dürfte sie damals 30 000 Menschen das Leben gekostet haben.
Die genauen Zahlen für München sind nicht bekannt. Doch sprach Geheimrat Friedrich von Müller (1858–1941), der damalige Direktor des städtischen Universitätsklinikums, nur wenige Monate nach Ausbruch der Grippe Anfang November 1918 bereits von 354 infizierten stationären Patienten und von 42 Todesfällen. Alle bis auf einen Patienten waren an einer Lungenentzündung gestorben – die jedoch nicht durch den geheimnisvollen Erreger der Influenza, sondern durch bakterielle Sekundärerreger hervorgerufen wurde. Künstliche Beatmungsmöglichkeiten gab es noch keine. Medikamentös half wenig, mit Kampfer versuchte man das geschwächte Herz-KreislaufSystem zu stützen.
Auch in München legte die in drei Wellen auftretende Seuche das öffentliche Leben lahm. In den Betrieben fiel bis zu einem Drittel der Belegschaft aus, in den Krankenhäusern fehlte grippebedingt Personal. Die Bevölkerung wurde aufgerufen, größere Ansammlungen, Theater und andere Veranstaltungen zu meiden.
Ein prominenter Grippepatient war der in München residierende päpstliche Nuntius Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII. Er lag 1918 mit hohem grippalem Fieber darnieder und wurde von seinem Hausarzt in dessen Privatklinik behandelt.
Weniger Glück hatte Max Weber, der Begründer der wissenschaftlichen Gesellschaftskunde. Kurz nach seiner Berufung an die Universität München im Juni 1920 erlag er den Spätfolgen der Grippe. Der Schriftsteller Oskar Maria Graf verlor seine Schwester an die Grippe.
Fieberhaft suchten Ärzte nach einem Bazillus als Auslöser der Grippe. Aber erst 1933 isolierten englische Forscher ein Virus, das für die Grippe verantwortlich war.
Corona führt die Seuchengeschichte fort
Auch in den letzten Dekaden gab es immer wieder Pandemien. So führte die Hongkong-Grippe 1968 in München zu 91 Sterbefällen. In der jüngeren Vergangenheit warfen Sars und die Schweinegrippe ihre Schatten, doch verlief es jeweils glimpflich. Von Explosiv-Epidemien mit vielen Toten weitgehend verschont und beflügelt von den Erfolgen der modernen Medizin, verlernten die Menschen im Laufe des 20. Jahrhunderts, mit Pandemien zu rechnen – bis das neuartige Coronavirus sie schmerzlich daran erinnerte, dass die Seuchengeschichte noch kein Ende hat. Wieder stehen die Zeichen auf Sturm und eine tödliche Bedrohung liegt in der Luft.