Iffeldorf/Gaißach – Leonore Leidel sitzt in ihrem kleinen Atelier in Iffeldorf an den Osterseen im Landkreis Weilheim-Schongau und schneidet lilafarbenen Samtstoff zu. Sie bügelt die Kanten um, näht und klebt einen Faltenrock für einen ihrer Engel. Jeder Griff sitzt. Die 66-Jährige hat schon so viele Engel gemacht, dass sie locker den Himmel damit füllen könnte.
Erlernt hat sie das Handwerk von ihrer Mutter. Pauline Leidel-Spreen war Malerin. Aber nach dem Krieg damit Geld zu verdienen, war schwierig. Obwohl sich die Menschen auch damals schöne Dinge wünschten. Eines Tages habe ihre Mutter aus Wachs einen Engelskopf geformt, erzählt Leonore Leidel. Das war 1949 in München, Leonore war da noch gar nicht auf der Welt.
Die Mutter bemalte den Kopf, bastelte einen Körper, nähte Kleider aus Stoffresten und klebte Flügel aus Gänsefedern. Dieser Engel gefiel vielen Nachbarn und schnell sprach sich in der Stadt herum, wo es die erschwinglichen Himmelswesen gibt. Die einfachen und doch prachtvollen Weihnachtsengel galten den vom Krieg gebeutelten Menschen als Glücksbringer. „Es war wohl ein himmlischer Zufall, der uns die Engel gebracht hat“, sagt Leonore Leidel.
Sogar „Harrods“ hat Leidel-Engel bestellt
Nach dem Tod der Mutter im Jahr 1998 führte sie das Kunsthandwerk weiter. „Ein wenig hat sich die Herstellung geändert“, sagt Leonore Leidel. So gab es früher keinen Heißkleber und die Klebestellen wurden mit Wäscheklammern fixiert, bis der Kleber trocken war. Auch verwendete man Glaswolle für die Haare. „Heute unvorstellbar“, sagt sie. „Ich kann mich noch erinnern, wie meine Mutter die Finger ganz dick umwickelt hat, bevor sie die Frisuren aufklebte. Denn Glaswolle ist etwas ganz Fürchterliches und juckt und kratzt überall.“
Der Stil der Leidel-Engel ist aber geblieben – das beweisen die historischen Engel der Mutter im Regal hinter dem „Unverkäuflich“-Schild. Deren Gesichter sind genauso minimalistisch wie die der Engelchen, die Leonore herstellt. Jeder Engel wird einzeln von Hand gefertigt. Die Flügel machen besonders viel Arbeit. Leonore Leidel fertigt sie deshalb schon im Frühjahr. Auch die Köpfchen werden im Voraus gegossen und bemalt. „Damit man im Herbst gleich loslegen kann.“
Die Engel gibt es in Größen von neun bis 63 Zentimeter und kosten 20 bis 1000 Euro. Sogar das Londoner Nobel-Kaufhaus Harrods hat heuer Weihnachtsengel bei Leonore Leidel bestellt. Aber dann kam Corona – die Bestellung wurde zurückgezogen. Auch die Standlbetreiber vom Nürnberger Christkindlmarkt und viele andere stornierten. Ihr Absatz sei um 70 Prozent eingebrochen, sagt Leonore Leidel.
Nur eine halbe Autostunde entfernt haben Hannelore und Mathias Eggl ihre Werkstatt. Auch hier gibt es Engel in allen Größen und Preisklassen. In Gaißach im Isarwinkel setzt man aber nicht auf Minimalismus. Hier tragen die Engel krause Locken, die Gewänder sind pompös, blitzen vor Verzierungen.
Aus ihren Schöpfern sprudelt es nur so heraus, wenn sie erzählen – wohl auch, um die Stille zu bekämpfen, die in diesem Advent in ihre Werkstatt eingezogen ist. „Uns sind 80 Prozent weggebrochen“, sagt Mathias Eggl. „Statt normalerweise 800 Wachskopfengel haben wir diesen Advent bislang 60 verkauft.“ Wer sich so ein teures Schmuckstück leistet, möchte es befühlen und genau ansehen. Christkindlmärkte gibt es heuer aber nicht. Das Geschäft wird die Corona-Krise aber überstehen. Auch dank des Online-Handels mit Bastelbedarf. Außer Weihnachtsengeln kann man bei den Eggls viele andere Dinge kaufen – von Spitzenborten, Dresdner Pappe über Seidenblumen bis zu Osterschmuck, Klosterarbeiten, Fatschenkindl und Federbäumchen (siehe Randspalte).
Alles ist feinsäuberlich sortiert in unzähligen Schubladen. Mathias Eggl zieht eine heraus: In ihr lagern kleine Jesukindlein, in der nächsten Wachsköpfchen für die Engel. „Wir haben Material für 5000 Engel, damit sind wir mindestens zwei Jahre lang autark“, rechnet er vor. Der 57-Jährige war früher Landschaftsgärtner. „Ich habe einen Kurs gemacht in Klosterarbeiten und bekam sofort bescheinigt, dass ich die Gabe dazu habe“, erzählt er von seinem Wandel zum Engelsschöpfer. Hannelore, 59, früher Rechtsanwaltsgehilfin, ist für die Farben und Materialien zuständig.
Die Eggls sind klassische Quereinsteiger. Es begann mit einem Wachskopf, den Mathias 1989 von einem Flohmarkt mitbrachte. Hannelore bastelte einen Engel daraus – und der begeisterte ihren Versicherungsvertreter. „So kam dann ein Ding zum anderen, bis wir schließlich die Bestände und Wachsformen der anderen Engelhersteller in Oberbayern aufkauften, darunter die von Berühmtheiten wie Heide und Günther Drozd, Ami Koestel und Felicitas Kreuzer“, erzählt Hannelore Eggl. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es noch einige Engelswerkstätten in Oberbayern. Aber es fehlte an Nachfolgern. Also wurde verkauft.
Erst seit 2003 betreiben die Eggls ihre Werkstatt professionell. Auch am Atelier von Leonore Leidel wären sie durchaus interessiert. Aber die will selbst Engel basteln und in die ganze Welt verkaufen. „Ich habe die Hoffnung, dass die Menschen nach der Pandemie noch mehr Lust haben auf einen Engel“, sagt die 66-Jährige aus Iffeldorf, die ihren Engeln tatsächlich ein bisschen ähnlich sieht.
Wie lange es noch Engelswerkstätten geben wird, steht in den Sternen. Weder Leonore Leidel noch die Eggls haben Kinder. „Es wäre jammerschade, wenn nach uns Schluss ist und das Wissen verloren geht“, sagt Hannelore Eggl. Vorsichtshalber habe sie alles notiert, den Bauplan jedes einzelnen Engels, sagt sie, und zeigt auf einen Ordner: „Das ist meine Bibel, die ist für meinen Nachfolger – wenn ich denn jemanden finde.“ Als sie darüber nachdenkt, dass weder sie noch Leonore Leidel ihre Nachfolge gesichert haben, schüttelt sie nachdenklich den Kopf. „Irgendein Wunder braucht es, damit die Tradition der Weihnachtsengel in Oberbayern nicht mit uns ausstirbt.“
Die Engel im Internet
Hannelore und Mathias Eggl haben zwei Internetseiten: www.eggl-gmbh.de und www.eggl-creativ.de;
Leonore Leidels Engel findet man unter: www.die-weihnachtsengel.de