Das mutierte Virus: Wie gefährlich ist es?

von Redaktion

Corona-Experten erklären, was in England passiert ist und warum Deutschland gerade Glück hat

VON ANDREAS BEEZ

München – Für Laien klingt der Name nichtssagend, auf Wissenschaftler wirkt er dagegen alarmierend und auf Politiker furchteinflößend: B.1.1.7 steht für die neue Corona-Variante, die derzeit England in Angst versetzt. In Bayern ist bisher kein Fall einer Ansteckung mit der neuen Variante bekannt, teilte das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit gestern mit. Trotzdem herrscht Alarmstufe. In unserer Zeitung erklären führende Corona-Experten, was es mit B.1.1.7 auf sich hat.

Was versteht man eigentlich unter einer Virus-Mutation?

„Um sich zu vermehren, docken die Coronaviren mit ihren Spike-Proteinen an den Wirtszellen im Körper an. Das sind – vereinfacht erklärt – Eiweißteilchen, die auf den bekannten Modellbildern des Sars-CoV-2-Virus wie kleine Krönchen aussehen“, erklärt Professor Hans-Martin Jäck, Leiter der Abteilung für Immunologie am Uniklinikum Erlangen. Anschließend schleusen die Viren ihre Erbinformation in die Zelle ein, um sie dort zu vermehren. „Diesen Prozess kann man sich vorstellen wie einen Kopiervorgang. Dabei passieren immer mal wieder kleinere Kopierfehler. Wenn diese vom Virus nicht repariert werden, entsteht eine Mutation“, sagt der Corona-Experte.

Ist eine Virus-Mutation immer gefährlich?

Nein. Viren mutieren ständig. Beim Sars-CoV-2-Virus gehen Virologen von ein bis zwei Mutationen im Monat aus. „Gerade sogenannte RNA-Viren, zu denen auch die Coronaviren zählen, passen sich ständig ihrer Umgebung an“, erklärt Privatdozent Dr. Christoph Spinner, Leiter der Infektiologie am Münchner Uniklinikum rechts der Isar. „Das allein ist nicht relevant. Gefährlich wird es allerdings dann, wenn ein Virus durch eine Mutation einen selektiven Vorteil gewinnt. Im Fall der neuen Virus-Variante besteht er darin, dass sie sich offenbar leichter übertragen kann als das ursprüngliche Sars-CoV-2-Virus.“

Was ist der Unterschied zwischen einer Virus-Mutation und einer Virus-Variante?

Von einer Virus-Variante sprechen Wissenschaftler dann, wenn das veränderte Virus eine Reihe von Gen-Mutationen beinhaltet – praktisch ein ganzes Paket. Im Falle der englischen Variante mit der wissenschaftlichen Bezeichnung B.1.1.7 beinhaltet dieses Paket mindestens 17 Mutationen.

Was macht B.1.1.7 so brisant?

Mehrere Mutationen dieser Variante betreffen die „Krone“ des Coronavirus – also die Spike-Proteine, die es zum Eindringen in die Wirtszelle braucht. „Es besteht der Verdacht, dass B.1.1.7 besser an die Rezeptoren in der Lunge andocken kann. Dadurch würden bereits kleinere Virusmengen ausreichen, um eine Infektion auszulösen. Anders ausgedrückt: Diese Variante des Coronavirus wäre wesentlich ansteckender als das Original“, erklärt Professor Alexander Kekulé, Direktor des Instituts für Mikrobiologie des Uniklinikums Halle.

Wann und wie wurde die neue Virus-Variante entdeckt?

„Wissenschaftler entdeckten sie bereits in Proben von Anfang September“, sagt Infektiologe Spinner. Die Proben stammten von Patienten aus der englischen Grafschaft Kent und aus dem Großraum Londons. Vor einer Woche waren bereits 1623 Nachweise der Variante B.1.1.7 bekannt – über England hinaus auch in Schottland, Wales und vier weiteren Ländern.

Die zunächst schleichende Ausbreitung sei nicht ungewöhnlich, erläutert der Virologe Kekulé: „Solche neuen Varianten müssen zunächst eine gewisse Schwelle an Infektionen überspringen, bevor sie sich explosionsartig ausbreiten können. Dies ist in England in den letzten Wochen leider geschehen.“

Wie ist die aktuelle Lage in England?

Virologe Alexander Kekulé weiß aus Telefonaten mit englischen Kollegen, dass im Großraum London inzwischen über die Hälfte der Corona-Infektionen von der neuen Virus-Variante verursacht wird. „Die Ärzte dort sind sehr besorgt.“

Lässt es sich verhindern, dass B.1.1.7 auch nach Deutschland eingeschleppt wird?

„Wir haben das Glück, dass sich Deutschland gerade im Lockdown befindet. Dadurch können einzelne Infizierte, die das Virus nach Deutschland einschleppen, nicht so viele Menschen anstecken“, erläutert Kekulé. Deshalb seien auch die Grenzschließungen alternativlos. „Unseren Politikern blieb gar nichts anderes übrig, als die Einreise aus Großbritannien einzuschränken. Dadurch können wir die neue Virus-Variante hoffentlich zumindest aufhalten, um Zeit zum Impfen zu gewinnen.“

Was bedeutet die neue Virus-Variante für die Impfungen?

„Wir müssen jetzt so schnell wie möglich so viele Menschen wie möglich impfen“, fordert Kekulé. „Denn sonst laufen wir Gefahr, dass die Corona-Zahlen durch die möglicherweise noch ansteckendere Virus-Variante aus dem Ruder laufen.“

Droht die Gefahr, dass der Impfstoff bei der neuen Virus-Variante nicht wirkt?

Darauf gibt es nach einhelliger Meinung führender Wissenschaftler bislang keinen Hinweis. Durch den Impfstoff werde eine „Riesenmischung von Antikörpern gebildet“, sagt der Berliner Virologe Professor Christian Drosten. Von den Mutationen der Virus-Variante wären jedoch nur einer oder ganz wenige Antikörper betroffen und damit womöglich wirkungslos, so Drosten gegenüber dem Deutschlandfunk.

Auch sein Kollege Alexander Kekulé sieht kaum Gefahr, dass der Impfstoff wegen der Corona-Mutation aus England versagen könnte. „Möglicherweise kann in einigen Fällen eine Ansteckung nicht mehr vollends verhindert werden, aber diese Infektionen werden aller Voraussicht nach deutlich milder verlaufen“, sagt er. „Mit einem Impfversagen rechne ich nicht.“

Was bedeutet die neue Virus-Variante für Weihnachten in Deutschland?

Zunächst einmal gar nichts, weil sich der „Import aus England“ erst im neuen Jahr in den deutschen Infektionszahlen niederschlagen würde.

Müssen wir nach Weihnachten wieder mit einem Anstieg der Infektions- und Todeszahlen rechnen – ähnlich wie die Amerikaner nach dem Thanksgiving-Fest?

„Das Problem in Amerika ist, dass man gar nicht mehr genau nachvollziehen kann, wie stark sich Thanksgiving ausgewirkt hat. Denn das Virus ist in einigen Bundesstaaten komplett außer Kontrolle geraten. Die Lage ist so dramatisch, dass man sich fragen muss, ob die Impfungen dort überhaupt noch eine Massendurchseuchung verhindern können. In Deutschland werden wir natürlich einen Weihnachtseffekt haben, aber dieser Effekt wird hoffentlich nicht zu einer signifikant erhöhten Sterblichkeit führen“, prognostiziert Virologe Kekulé.

Die Begründung des Virologen: „Die meisten Opfer gibt es in den Senioren- und Pflegeheimen zu beklagen – nicht in den Familien. Und in Familien, in denen ältere Menschen mit am Tisch sitzen, werden die Schutzmaßnahmen wie Abstand halten, Masken tragen und Lüften in der Regel eingehalten. Entscheidend ist, dass man selbst bei milden Erkältungssymptomen aus Sicherheitsgründen nicht an der Familienfeier teilnimmt. Wer die Möglichkeit dazu hat, der sollte am Tag der gemeinsamen Feier noch einen Corona-Schnelltest machen.“

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