„Ich habe meine Eltern das letzte Mal im Sommer gesehen“

von Redaktion

Die Krankenpfleger Marco Ziegler und Kerstin Tietgen arbeiten an Weihnachten. Freunde und Familie sind wegen Corona schon lange tabu

München – Das Leuten der Kirchenglocken und ein paar Plätzchen auf der Station. Viel mehr wird Kerstin Tietgen (26) und Marco Ziegler (28) nicht daran erinnern, dass gerade Heiligabend ist. Denn während ihre Familien und Freunde am Christbaum sitzen, Geschenke auspacken und Braten essen, werden die beiden Krankenpfleger durch die Klinikflure eilen, Patienten versorgen, nach Erkrankungen einteilen und die Beatmungsgeräte überwachen.

Kerstin Tietgen arbeitet in der Notaufnahme der München Klinik Bogenhausen, Marco Ziegler auf der Intensivstation des Isar Klinikums an der Münchner Sonnenstraße. Viele ihrer Patienten sind schwer an Covid-19 erkrankt. Tietgen und Ziegler werden an den Feiertagen nicht nur auf Treffen mit Verwandten und Freunden verzichten – sie werden gar kein Weihnachten feiern. Sie werden niemanden sehen, außer ihre kranken Patienten, die ebenfalls ohne Angehörige Weihnachten verbringen müssen. In einem Klinikbett. Denn es herrscht striktes Besuchsverbot. „Das macht das Ganze nicht leichter. Die Patienten sind traurig, dass sie an Weihnachten niemand besuchen kann, wir haben viele Diskussionen mit den Angehörigen“, sagt Tietgen. Aber die Infektionsgefahr sei zu groß. „Ich selbst habe meine Eltern das letzte Mal im Sommer gesehen, beide sind über 60 Jahre alt und ich habe auch in dem Corona-Isolationsbereich der Notaufnahme gearbeitet“, berichtet die engagierte Krankenpflegerin.

Normalerweise verbringt die 26-Jährige Weihnachten mit ihren Eltern und ihren beiden Schwestern. „Es ist sehr schade, dass das heuer nicht geht. Auch weil ich meine Schwestern nicht allzu oft sehe“, sagt sie. Ihr Familienersatz sind ihre WG-Mitbewohner. Dazu gehört auch Marco Ziegler.

Beide haben an Weihnachten Schicht – und das im Corona-Jahr und zu einer Zeit, in der die Infektionszahlen durch die Decke schießen. „Ich befinde mich aktuell auch in einer Art emotionalem Shutdown“, sagt Marco Ziegler. „Es ist psychisch sehr belastend, jeden Tag so viele so schwer kranke Menschen zu sehen.“ Durch den Lockdown fehle der private Ausgleich. „Ich sehe außerhalb der WG eigentlich niemanden mehr.“ Da Ziegler auf der Intensivstation arbeitet, ist ihm die Gefahr zu groß, jemanden anzustecken. „Dass man selbst durch die Arbeit einem hohen Risiko ausgesetzt ist, das habe ich schon ausgeblendet“, sagt er. Auf den Besuch von Verwandten zu verzichten, das finde er aber unumgänglich. „Augen zu und durch“, ist sein Credo, denn: „Um jeden Tag in der Arbeit zu funktionieren und mein Bestes für die Menschen zu geben, versuche ich gerade, mich emotional so gut es geht von all dem zu distanzieren.“

Der Heilige Abend, die Feiertage, die Besinnlichkeit – all das wird heuer an Kerstin und Marco vorbeiziehen. „Auf der Station können wir auch nicht wie sonst an Feiertagen gemeinsam essen. Es dürfen maximal zwei Personen in den Pausenraum – und dort ist der lange Tisch mit einer Plexiglas-Scheibe getrennt“, erklärt Marco. Immerhin werden einige Kollegen Plätzchen mitbringen und so vielleicht ein weihnachtlicher Duft über die Flure der Station ziehen. „Nachholen kann man Weihnachten nicht“, sind sich die Krankenpfleger einig. „Aber es ist okay, dass wir arbeiten. Wir sind jung und haben keine Kinder.“ Und an Weihnachten für die kranken Menschen da zu sein, auch das gibt den beiden ein tröstliches, erfüllendes Gefühl.

Ein bisschen mulmig wird Kerstin beim Gedanken ans Ende der ersten Weihnachtsschicht: „Es kann gut sein, wenn ich spätabends auf dem Rad nach Hause fahre, dass mich dann eine melancholische Stimmung überkommt.“ Ihr Trost: „Wir haben am Wochenende in der WG ein Weihnachtsessen gemacht. Das war schön!“ Und bereits jetzt ist die Freude groß. Aufs nächste Jahr, den nächsten Heiligen Abend. „Ich hoffe auf ein gesundes Weihnachten 2021“, sagt Marco Ziegler. Diesen Optimismus lassen sich die stillen Helden der Pandemie nicht nehmen. FELICITAS BOGNER

Artikel 2 von 4