„Jeder Tag mit den Enkeln ist ein Geschenk“

von Redaktion

VON ANDREAS BEEZ

Oberschleißheim – Lernen war immer ihr Leben. Schon früher als Lehrerin. Auch nach ihrer Pensionierung hat Johanna nie damit aufgehört. Sie fuchste sich ins Computerzeitalter hinein – und seit die 85-Jährige von einem unsichtbaren Schreckgespenst namens Corona in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung festgehalten wird, lebt sie digitaler als jemals zuvor. Die Oberschleißheimerin macht Online-Banking, bestellt bei Amazon, tippt WhatsApp-Nachrichten und googelt schon mal im Internet, wenn die Waschmaschine streikt.

„Man kann ja heutzutage fast alles von zu Hause aus regeln“, stellt Johanna nüchtern fest. „Alles schön und gut – aber eines können selbst Highspeed-Internet und Bildtelefonie nicht ersetzen: das unbezahlbare Gefühl, wenn du die Menschen, die du liebst, in den Arm nehmen kannst.“

Diese emotionale Nähe soll ihr der Impfstoff der deutsch-amerikanischen Firmenkooperation Biontech/Pfizer zurückgeben. Das sogenannte mRNA-Vakzin nährt ihre Hoffnung, dass der Corona-Spuk bald vorbei sein wird. „Die revolutionäre Wirkweise des Impfstoffs fasziniert mich“, erzählt die 85-Jährige, die sich im Internet auch über die Ergebnisse der für die Zulassung relevanten klinischen Studien informiert hat. Angst vor der Impfung hat sie nicht. „Warum auch?“, fragt die 85-Jährige und liefert die Antwort gleich hinterher: „Die Sorge, dass der Impfstoff das Erbmaterial des Menschen verändern und damit Krebs verursachen könnte, ist nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft unbegründet. Und selbst, wenn nach vielen Jahren ungeahnt doch Langzeitfolgen auftreten sollten, würde ich diese wahrscheinlich sowieso nicht mehr erleben.“

Kleine Nebenwirkungen nimmt die Seniorin in Kauf, sie kennt so was schon von ihren Grippeimpfungen. „Eine Druckstelle am Arm und etwas Müdigkeit sind doch gar nichts gegenüber der Vorstellung, mit Corona auf der Intensivstation zu landen und dort zu sterben.“ Wie sich Atemnot anfühlt, hat sie vor zwei Jahren erfahren müssen. Damals war sie an Influenza erkrankt. In Kombination mit Bakterien lösten die Grippeviren eine sogenannte Superinfektion aus. Die Folge: eine schwere Lungenentzündung, es stand Spitz auf Knopf um die Seniorin.

Im Münchner Krankenhaus Dritter Orden päppelten Ärzte und Pflegekräfte die Seniorin mühevoll wieder auf, verabreichten ihr regelmäßig hochdosierten Sauerstoff. Immer wieder hatte sie mit starken Hustenanfällen zu kämpfen. „Die Schmerzen dabei waren schlimm. Aber noch schlimmer war das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und die Angst davor, vielleicht gleich zu ersticken“, sagt die 85-Jährige.

Umso ernster nimmt sie Corona – schon seit der ersten Welle im Frühjahr. Sie geht nur noch selten zum Einkaufen, trägt dabei immer eine FFP-2-Schutzmaske. Essen bringt ihre Familie, die nur ein paar Häuser weiter wohnt, regelmäßig vorbei. Ihre eigenen vier Wände verlässt Johanna kaum, allenfalls zur Physiotherapie, für einen Spaziergang im Wald oder um ihre Enkelkinder zu sehen: möglichst draußen – und falls notgedrungen drinnen, dann nur bei geöffnetem Fenster und immer mit FFP-2-Maske. Die geplante Feier zu ihrem 85. Geburtstag im Sommer sagte sie ab, es gab nur einen kleinen Umtrunk mit der engeren Familie im heimischen Garten.

Schon damals wollte die Seniorin Menschenansammlungen in geschlossenen Räumen vermeiden. Johanna weiß, dass die größte Ansteckungsgefahr für sie persönlich derzeit von Aerosolen ausgeht – feinsten, virenbeladenen Tröpfchen, die sich länger in der Luft halten können. Auch ihr Sohn und die Schwiegertochter empfinden die Familientreffen als heiklen Kompromiss – selbst wenn sie in kleinem Kreis und mit maximal möglichem Abstand stattfinden. „Die Kinder wollen nicht riskieren, dass sie mich anstecken“, sagt Johanna. „Zumal es ja absehbar ist, dass die Pandemie bald zu Ende gehen wird und wir uns endlich wieder unbeschwerter treffen können.“

Daran glauben alle in ihrer Familie. Und deshalb haben sie selbst Weihnachten getrennt gefeiert – so schwer es auch fiel. Denn es könnte Johannas letztes Weihnachtsfest gewesen sein. „Damit muss man mit 85 immer rechnen. Aber auf der anderen Seite hoffe ich, dass mich der Herrgott noch ein paar Jahre auf der Erde lässt.“

Die 85-Jährige ist fitter als viele Gleichaltrige, leidet allerdings an Risikofaktoren wie Koronarer Herzkrankheit, Herzinsuffizienz und Vorhofflimmern. Sie macht sich nichts vor: „Wenn ich mich mit dem unsäglichen Virus anstecke, dann werde ich diese Infektion wahrscheinlich nicht überleben.“

Die Statistik befeuert ihre Sorge. Zwei von drei Corona-Opfern gehören der Generation 80 plus an, allein in Bayern starben bereits über 4000 Hochbetagte an der Erkrankung. „Ich möchte nicht, dass mein Leben einsam auf einer Intensivstation endet. Das will ich unbedingt verhindern“, sagt Johanna.

Deshalb hat sich die Seniorin noch im alten Jahr online um einen Termin im Impfzentrum in Unterschleißheim bemüht – vorerst vergeblich. „Dem Landkreis München werden die Impfdosen nur Zug um Zug zugestellt. Sobald ausreichend Impfstoff vorhanden ist, erfahren sie es auf dieser Seite“, las Johanna dort. Die Hoffnung hat sie aber nicht aufgegeben. „Ich werde immer wieder im Internet nachschauen, wann ich endlich meine Chance auf die Impfung erhalte.“

Sich ihrem Schicksal ohne das schützende Serum zu ergeben, kommt für die 85-Jährige nicht infrage. „Natürlich habe ich den allergrößten Teil meines Lebens gelebt. Aber wenn ich beispielsweise an Krebs erkranken würde, dann würde ich trotzdem noch versuchen, etwas dagegen zu unternehmen. Zu sagen, ,gut, dann sterbe ich halt jetzt‘, wäre nicht mein Weg. Allein schon deshalb, weil jeder Tag mit meinen Enkeln ein Geschenk ist. Und ich wünsche mir noch viele solcher Tage.“

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