Ein Jahr Corona: In Stockdorf fing alles an

von Redaktion

VON LAURA FORSTER (TEXT) UND MARCUS SCHLAF (FOTOS)

Stockdorf – Eva-Maria Klinger, 59, sitzt an einem massiven Holztisch im Wohnzimmer ihres Bungalows in Stockdorf, einem Ortsteil der Gemeinde Gauting. An den Ausnahmezustand, der vor einem Jahr in ihrem Heimatort herrschte, kann sie sich noch gut erinnern. „Die Einheimischen haben damals überlegt, wo die Webasto-Mitarbeiter eingekauft haben, zu Mittag gegessen haben oder sich einen Kaffee geholt haben. Diese Geschäfte haben viele Leute dann erst einmal aus Angst gemieden“, sagt sie. Sie selbst wohnt nur 300 Meter Luftlinie von dem Gebäude des Automobilzulieferers entfernt, der vor einem Jahr den 4000 Einwohner großen Ort weltweit bekannt gemacht hat.

„Über die Bürgermeisterin habe ich von dem ersten Corona-Fall erfahren“, sagt Klinger, die für die CSU im Gemeinderat sitzt. Ihr erster Gedanke: „Jetzt ist das Virus auch bei uns angekommen.“ Ein Webasto-Mitarbeiter hat sich am 27. Januar als erster Deutscher infiziert. Der Mann hatte sich bei einer Kollegin aus China angesteckt, die für drei Tage einen Workshop im Firmengebäude in Stockdorf gab. Der Patient wurde umgehend ins Klinikum Schwabing gebracht und dort isoliert (siehe Randspalte). Sofort begann das Gesundheitsamt Kontaktpersonen des 33-Jährigen und der Besucherin zu ermitteln. Bis zum Mittag des 28. Januars waren bereits 40 Namen zusammengekommen, drei weitere Mitarbeiter hatten sich mit dem Virus infiziert. Das Unternehmen schloss seine Türen für zwei Wochen. Die rund tausend Angestellten arbeiteten in der Zeit im Homeoffice.

„Das war damals eine richtige Sensation“, erinnert sich Ludwig Harter, der zusammen mit seinem Bruder und seiner Mutter die Confiserie Harter führt. Aus den Fenstern des Cafés kann er auf das Gelände des Automobilzulieferers blicken. „Am Morgen, nachdem der Coronafall bekannt wurde, war hier volles Programm.“ Er selbst hat die Nachricht gelassen genommen. „Ich habe mir erst einmal gar nichts gedacht“, sagt Harter. Als jedoch im Laufe des Tages ein Übertragungswagen nach dem anderen vor dem Webasto-Gebäude parkte, änderte sich seine Meinung. „Da dachte ich mir dann, das ist doch eine größere Geschichte.“ Das Dorf-Café verwandelte sich schnell zum Reportertreffpunkt. Dem ZDF und sogar der New York Times hat Harter damals ein Interview gegeben.

Auf sein Geschäft wirkte sich der Trubel jedoch nicht positiv aus – im Gegenteil. „Lange bevor irgendjemand anderes in Deutschland wirtschaftlich was gemerkt hat, waren wir hier schon betroffen“, sagt Harter. Die Webasto-Mitarbeiter arbeiteten von daheim – und die Einheimischen mieden aus Angst vor Ansteckung den Laden.

„Man hat ja gemeint, über Stockdorf hängt die Pestglocke“, sagt Harter. 50 Prozent des Umsatzes verlor der 34-Jährige zu der Zeit. Nach zwei Wochen normalisierte sich die Lage wieder – bis das Virus auch den Rest der Republik erreichte und der erste Lockdown nicht lange auf sich warten ließ. „Ich hab’ mir eigentlich gedacht, Corona ist jetzt ein paar Wochen Thema und dann wird sich das alles wieder im Sande verlaufen“, sagt Harter. „Dass das so lange dauert, habe ich nicht geglaubt.“

So ähnlich geht es auch Sebastian Brechenmacher. Er führt seit 2013 eine Arztpraxis in Stockdorf. Dass ihn die Krankheit ein Jahr nach dem ersten Corona-Fall noch täglich beschäftigt, hätte er nicht geglaubt. „Ich hätte nicht einmal gedacht, dass ein Lockdown kommt – geschweige denn ein zweiter.“

Ende Januar 2020 behandelte er einen Patienten, der Kontakt mit einer infizierten Webasto-Mitarbeiterin hatte. Ohne Schutzmaske, ohne Handschuhe, ohne Abstand. „Im Nachhinein wird mir schon etwas schwindelig, wenn ich daran denke“, sagt Brechenmacher. Er sitzt im Behandlungszimmer hinter seinem Schreibtisch. Die Brille beschlägt leicht, wenn er durch die FFP2-Maske atmet, die er mittlerweile 15 Stunden am Tag trägt. „Doch damals war alles, was wir jetzt wissen, noch überhaupt nicht bekannt. Es war ein neues Virus, das zu Atemwegserkrankungen führen kann“, sagt Brechenmacher. Einige Einwohner machten sich jedoch schon nach der ersten Corona-Infektion bei Webasto Sorgen. „Ich habe ein paar Anrufe von Patienten bekommen“, erinnert sich der Arzt. Die häufigsten Fragen waren: Wie kann ich mich schützen? Muss ich besondere Vorkehrungen treffen? Habe ich Corona oder eine Erkältung? Auf alles hatte Brechenmacher keine Antwort, denn er wusste es selbst nicht.

Die Angst war bei manchen Einwohnern groß, das spürte auch Thomas Krusche, der evangelische Pfarrer von Stockdorf. Ein paar Verunsicherte suchten einen Sündenbock, der das Virus in den Ort gebracht hat. „Es gab Stimmen, die sagten: Jetzt hat Webasto uns das eingebrockt“, sagt Krusche, während er in der menschenleeren Apostelkirche neben dem Altar steht.

Bürgermeisterin Brigitte Kössinger bekam sogar einen Anruf von der Webasto-Unternehmensleitung. „Sie haben mich gefragt, wie wir gemeinsam die Diskriminierung der Mitarbeiter verhindern können.“ Sie sitzt am Konferenztisch in ihrem Büro im Gautinger Rathaus. Kössinger habe damals gehört, dass ein Mitarbeiter sein Auto nicht zur Inspektion bringen durfte oder Eltern ihren Kindern verboten haben, mit Kindern des Autozulieferers zu spielen.

Nach ein paar Wochen und mit dem Corona-Ausbruch in Ischgl entspannte sich die Situation im Dorf wieder. „Die Einheimischen haben gesehen, dass Webasto nicht der Superspreader ist“, sagt Kössinger. Aber auch die offene Kommunikation des Unternehmens hat dazu beigetragen, dass das Ansehen der Firma wieder gestiegen ist. „Webasto ist von vorneherein offen mit allem umgegangen. Das hat Vertrauen geschaffen“, sagt Kössinger.

Läuft man heute durch Stockdorf, erinnert nichts mehr an die Aufregung vor einem Jahr. Ab und zu fährt ein Auto am Marktplatz vorbei. Eine Frau stakst mit ihrem Einkaufskorb über die Straße. „Stockdorf hat sich seit dem ersten Corona-Fall nicht verändert“, sagt Sebastian Brechenmacher. Der Ort ist noch genauso liebenswert wie zuvor. Die Dorfgemeinschaft hält weiterhin zusammen. „Aber die ganze Welt hat sich verändert“, sagt der Arzt. Die Pandemie ist inzwischen Alltag. In dem kleinen oberbayerischen Ort und überall sonst auch.

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