München – Karl Gareis, ein Landtagsabgeordneter der linken USPD, hatte am Abend des 9. Juni 1921 eine Rede im Mathäser gehalten – über die drohende Verkirchlichung der Schule. Es war ein heikles Thema, im Saal gab es Tumulte, aber Anfeindungen war der Redner schon gewöhnt. Eben erst hatte Ludwig Thoma ihn im „Miesbacher Anzeiger“ als „typischen Geisteskranken aus der Umsturzzeit“ geschmäht. Unbeeindruckt machte sich der 30-Jährige schließlich auf den Heimweg. Er fuhr mit der Tram vom Stachus nach Schwabing und ging die letzten Meter zu seiner Wohnung in der Freystraße 1 zu Fuß. Als er sich an der Gartentüre eben von einem Begleiter verabschiedete, krachten vier Schüsse. Einer traf ihn in den Kopf – Gareis, noch ins Schwabinger Krankenhaus eingeliefert, starb in der gleichen Nacht.
Der Mord an dem Sozialisten war nur einer von vielen Anschlägen, die die junge Weimarer Demokratie Anfang der 1920er-Jahre fast in den Abgrund rissen. Fast immer waren die Täter Rechtsextremisten, oft arbeitslos gewordene Soldaten, die sich nun in Freikorps und verschwörerischen Zirkeln sammelten und die eines einte: eine unheimliche Wut auf die neue Republik.
Nur zwei Monate nach der Revolution wurden in Berlin die KPD-Führer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg erschlagen. Am 21. Januar starb in München Bayerns erster Ministerpräsident Kurt Eisner durch Schüsse, die der glühende Monarchist Graf Arco hinterrücks auf ihn abgab. Der bayerische SPD-Vorsitzende Erhard Auer, 1919 von einem Eisner-Anhänger aus Wut über den Mord schwer verletzt, überlebte am 26. Oktober 1921 ein weiteres Pistolen-Attentat. Dazu gab es Fememorde, denen angebliche „Verräter“ an der nationalen Sache zum Opfer fielen – so im Oktober 1920 die Odelzhauserin Maria Sandmayr.
Aus der Vielzahl der Attentate stachen die auf Ex-Reichsfinanzminister (und Unterzeichner des Waffenstillstands) Matthias Erzberger imSchwarzwald am 26. August 1921 und auf Außenminister Walter Rathenau in Berlin am 24. Juni 1922 hervor. Speziell Rathenau war das Feindbild schlechthin – „Sie ahnen gar nicht, wie viele Drohbriefe ich bekomme“, sagte er kurz vor seinem Tod einem Freund. Ähnlich wie beim Mord jetzt an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke bildete der Mord an Rathenau eine Zäsur – erstmals ging ein Ruck durch die Gesellschaft. Eine konkrete Maßnahme damals: die Einrichtung eines Staatsgerichtshofes zum Schutz der Republik sowie ein umfassendes Verbot rechtsgerichteter Verbände (das freilich nur kurz anhielt).
Antisemitismus spielte speziell bei diesen Anschlägen, anders als oft zu lesen, eine eher untergeordnete Rolle. Erzberger war kein Jude, Rathenau schon. Doch konnte der Historiker Martin Sabrow anhand von Ermittlungsakten nachweisen, dass diese Morde Teil der Strategie der geheimbündlerischen „Organisation Consul“ waren, die der ehemalige Kapitänleutnant Hermann Ehrhardt führte. Ehrhardt hatte sich 1920 am sogenannten Kapp-Putsch beteiligt und war enttäuscht, dass der Sturz der Republik damals nicht klappte. Jetzt versuchte er, mittels Anschlägen die Republik ins Wanken zu bringen. Bezeichnend ist auch, dass sich Rathenaus Mörder, Erwin Kern und Hermann Fischer, bei ihrer Flucht auf ein Netzwerk von Helfershelfern verlassen konnten. Sie verschanzten sich auf der Burg Saaleck (Sachsen-Anhalt), wo sie die Polizei aufspürte und Kern erschoss – woraufhin sich Fischer selbst richtete. Die Erzberger-Mörder waren ins Ausland entkommen – sie wurden erst in den 1950er-Jahren verurteilt. Der Mord an dem Münchner Karl Gareis konnte indes nie aufgeklärt werden. DIRK WALTER