Frankfurt – Als Stephan Ernst erfährt, dass er lebenslänglich bekommt, sieht er aus wie immer in den vergangenen sechseinhalb Monaten. Der Hauptangeklagte im Prozess um den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hat die Hände in den Schoß gelegt und schaut regungslos nach vorn. So saß er seit Juni die allermeiste Zeit auf der Anklagebank des Oberlandesgerichts Frankfurt. Auch am Ende dieses historischen Mammut-Prozesses ist das nicht anders.
Der Staatsschutzsenat hat den Rechtsextremisten wegen des Mordes an dem CDU-Politiker zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen ihn bleibt vorbehalten. Das heißt: Der 47 Jahre alte Familienvater aus Kassel wird nicht nach 15 Jahren freikommen.
Ernst, der zwei kleine Kinder hat, hatte die Tat gestanden, Reue gezeigt, sich bei der Witwe und den Söhnen Lübckes entschuldigt. All das gelte als mildernd, sagte der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel in der dreistündigen Urteilsbegründung. Doch diese Tat lasse wenig Spielraum. Ernst habe seinen Fremdenhass auf Lübcke projiziert.
Dass er zu einer langen Haftstrafe verurteilt werden würde, muss Ernst klar gewesen sein. Als er kurz vor der Urteilsverkündung in den Saal geführt wurde, lehnte er zwischen seinen Anwälten an der Wand – und kurz sackten die Schultern des großen Mannes im schwarzen Anzug und dem weißen Hemd zusammen. Doch anders als während seines Geständnisses flossen keine Tränen. Blass und mit unbewegter Miene verfolgte er die Urteilsbegründung. Schon der psychiatrische Gutachter hatte gesagt, dass der 47-jährige Deutsche nicht zu äußerlichen Gefühlsregungen neige. Innerlich könne er aber dennoch sehr aufgewühlt sein.
In der Nacht zum 2. Juni 2019 hat Ernst den nordhessischen CDU-Politiker Lübcke auf dessen Terrasse im Landkreis Kassel erschossen, das Gericht sieht das als erwiesen an. Das Motiv: Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit. Der gelernte Industriemechaniker störte sich an der liberalen Haltung Lübckes zur Flüchtlingspolitik. Der Politiker hatte die Aufnahme von Flüchtlingen 2015 bei einer Veranstaltung verteidigt, bei der auch Ernst war.
Mit ernsten Gesichtern hatten die Nebenkläger um kurz vor 10 Uhr den Gerichtssaal betreten: Irmgard Braun-Lübcke, die Witwe des ermordeten CDU-Politikers, und ihre beiden Söhne. Fast jeden Verhandlungstag hatten sie hier verbracht, den Blick fest auf die Angeklagten gerichtet. Diesmal blickten sie auch in den Zuschauerraum, als nähmen sie an diesem Tag erstmals das enorme öffentliche Interesse bewusst wahr. Auch aus ihrer Heimatregion waren Zuschauer gekommen, die Solidarität und Anteilnahme bekunden wollten.
Doch die Angehörigen Lübckes waren wohl mit Hoffnungen in das Gericht gekommen, die das Urteil nun nicht erfüllte: Ihr Anwalt hatte in 30 Punkten zu begründen versucht, warum der wegen Beihilfe angeklagte Markus H. als Mittäter anzusehen sei. Doch die fünf Richter folgten weder dem Plädoyer der Nebenklage noch den Forderungen der Bundesanwaltschaft für H.: Im Anklagepunkt der Beihilfe gab es einen Freispruch, wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz eine Bewährungsstrafe.
„Wir wissen, dass Ihr Verlust kaum zu ermessen ist“, sagte Sagebiel, an die Familie Lübcke gerichtet. Die Aufgabe des Gerichtes sei es aber gewesen, „hier ein faires Verfahren durchzuführen“. Und dabei hatte das Gericht zu viele Zweifel an den Angaben von Ernst über die Rolle von H., über seine angebliche Anwesenheit am Tatort. Ebenso hatten sie Zweifel beim zweiten Anklagepunkt gegen Ernst wegen versuchten Mordes an dem irakischen Asylbewerber Ahmed I., der im Januar 2016 bei einem Messerangriff schwer verletzt wurde.
„Wir wissen, dass Sie durch die wohl ausländerfeindliche Tat schwer verletzt worden sind“, wandte sich Sagebiel an den jungen Iraker. „Es kann sein, dass Herr Ernst der Angreifer war – wir wissen es nicht.“ Ähnlich wie beim Beihilfe-Vorwurf gegen Markus H. entschied das Gericht angesichts der Beweislage nach dem Rechtsgrundsatz „in dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten.
Wer den Prozess verfolgte, dürfte spätestens bei der Aufhebung der Untersuchungshaft für Markus H. mit dieser Entscheidung gerechnet haben, auch die Nebenkläger. Doch vermutlich hatten sie bis zuletzt auf eine andere Einschätzung gehofft. Hinter Maske und Brille ließ sich nur schwer der Gesichtsausdruck von Irmgard Lübcke-Braun ablesen. Doch die Frau, die in den vergangenen Monaten viele mit ihrer aufrechten, gefassten Haltung beeindruckt hatte, saß immer wieder vornübergebeugt und mit gesenktem Kopf, als treffe das Gewicht, die Last des Verfahrens sie nun mit seiner ganzen Heftigkeit.
Der Sprecher der Familie Lübcke sagte später, der Markus H. betreffende Teil des Urteils sei für die Familie schwer zu verkraften. Zentrale Fragen zum Tatablauf blieben offen und ungeklärt: „Die verbleibende Ungewissheit, wie die letzten Augenblicke vor der schrecklichen Tat abgelaufen sind, schmerzt sehr.“
Wie verloren stand Ahmed I. nach dem Ende des Prozesses vor einem Halbkreis von Journalisten, während eine seiner Unterstützerinnen ein Statement für ihn vorlas: „Ich bin sehr traurig, da ich in Deutschland nun das zweite Mal einen Verrat erleben musste“, hieß es da. Er habe sich nicht mit Respekt behandelt gefühlt, erklärte der 27-Jährige, der noch immer unter den körperlichen und seelischen Folgen des Angriffs im Januar 2016 leidet. „Auch ich als fremder Mensch in Deutschland möchte nur, dass ich mein Recht bekomme. Könnt Ihr nicht sehen, dass ich ein Mensch bin, wie Ihr anderen hier auch?“