Wie Israel Impf-Weltmeister wurde

von Redaktion

VON WIN SCHUMACHER

Tel Aviv – Sarah Stricker und ihr Freund sind auf dem Weg zu einem besonderen Termin. Im Zentrum von Tel Aviv, nur fünf Minuten zu Fuß von ihrer Wohnung entfernt, bekommen sie heute ihre erste Covid-19-Impfung. Die Deutsche, die in Israel lebt, ist erst 40 Jahre alt. In Deutschland, wäre sie noch lange nicht an der Reihe. „Wer hätte gedacht, dass in Israel zu leben sich mal als Sicherheitsvorteil herausstellt?“, sagt sie und lächelt.

Die bei Speyer aufgewachsene Schriftstellerin zog vor elf Jahren von Berlin nach Israel. Bekannt wurde sie durch ihren Debütroman „Fünf Kopeken“. „Ja, ein bisschen aufgeregt, bin ich schon“, sagt Sarah Stricker, „aber vor allem glücklich.“ Das Paar geht eine Parallelstraße des Rothschild-Boulevards entlang. Dafür, dass Israel bis Ende Januar im strikten Lockdown ist, ist die Stadt recht belebt. Gestern beriet die Regierung über eine Verlängerung, ein Ergebnis lag bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht vor. Die Infektionszahlen sind hoch. 6435 neue Fälle meldete das kleine Land am Samstag.

Netanjahus Impfstoff-Daten-Deal mit Pfizer

Aber schon jetzt nehmen viele Israelis die staatlichen Anordnungen nicht sonderlich ernst. „Die Tel Aviver sind ziemlich coronamüde“, sagt Stricker. Vor allem in ultraorthodoxen Vierteln werde die Pandemie oft ignoriert. Das zeigte sich gestern auch in Jerusalem. Tausende ultraorthodoxe Juden nahmen am Sonntag an der Bestattung eines Rabbiners teil. Dicht gedrängt und großteils ohne Masken folgte die Masse dem Trauerzug für Meschulam Dovid Soloveitschik, Leiter einer einflussreichen Talmud-Schule, der im Alter von 99 Jahren gestorben war.

Die dramatischen Fallzahlen sind die Quittung. Im September und vor allem im Dezember traf Corona das Land mit voller Wucht. Rund 640 000 Infektionen bisher – bezogen auf die rund neun Millionen Einwohner eine der höchsten Zahlen weltweit. Mehr als 4700 Corona-Patienten starben bereits, die Kliniken arbeiten am Limit.

Gleichzeitig ist Israel das Land mit der höchsten Impfrate. Rund drei Millionen Bürger haben ihre erste Spritze erhalten – fast ein Drittel der Bevölkerung. 1,7 Millionen haben sogar die schon die zweite Dosis. Binnen eines Monats waren die meisten über 50-Jährigen geimpft.

Als am 19. Januar auch über 40-Jährige zugelassen werden, vereinbart Stricker über eine App ihrer Gesundheitskasse mit wenigen Klicks einen Impftermin. Ihr wird ein Termin im Februar angeboten. Stricker geht aber wie viele andere Tel Aviver zum Impfzentrum, um vielleicht eine der Dosen abzustauben, die am Ende des Tages übrig bleiben und sonst weggeworfen werden. „Dann wurde durchgefragt: Gibt es jemanden über 49? 48? 47?“ An diesem Abend schafft es nur noch ein 43-Jähriger zur Erstimpfung. 40 ist zu jung. Tags darauf erhält sie jedoch eine Nachricht aufs Handy. Am 24. Januar seien noch Impftermine verfügbar. Einen großen Anteil am Erfolg der Impfaktion in Israel hat das digitalisierte und unbürokratische Gesundheitssystem. Wie aber ist Israel so schnell an so viel des begehrten Impfstoffs gekommen? Ministerpräsident Netanjahu und sein Gesundheitsminister Juli-Joel Edelstein führten früh Gespräche mit Pfizer-Chef Albert Bourla – und erreichten eine Abmachung: Für eine Impfaktion im Eiltempo reicht Israel Impfdaten an den Pharmakonzern weiter. Zudem übernimmt Israel die Produkthaftung – und zahlt mehr. Wie viel mehr, ist nicht bekannt. Laut ARD sollen es aber rund 23 Euro pro Dosis sein – das Doppelte im Vergleich zur EU. Netanjahus Kritiker bemängeln den Impfstoff-für- Daten-Deal. Empörung gibt es auch darüber, dass die palästinensischen Gebiete leer ausgehen, obwohl im März voraussichtlich mehr Impfstoff da sein wird als benötigt. Gestern stellte Israel zumindest 5000 Corona-Impfdosen für das medizinische Personal im besetzten Westjordanland und im Gazastreifen bereit. Für das Gesundheitswesen der Palästinenser ist eigentlich die Autonomiebehörde zuständig, die angibt, vier Lieferverträge für Impfstoffe unterzeichnet zu haben, darunter Russlands „Sputnik V“. Erste Lieferungen sollen noch diese Woche kommen. Für Netanjahu könnte sich der Pfizer-Deal doppelt auszahlen. Der Premierminister hat ein Korruptionsverfahren am Hals und politisch enorm an Rückhalt verloren. In den letzten Monaten gab es landesweit Proteste gegen den Regierungschef. Durch einen Erfolg seiner Impfpolitik könnte Netanjahu zum wiederholten Mal aus den im März anstehenden Neuwahlen als Sieger hervorgehen – allen Skandalen und einer ansonsten katastrophalen Corona-Bilanz zum Trotz.

Sogar Schüler werden schon geimpft

Erste Auswertungen der Impfungen dürften Netanjahus Wahlkampf Rückenwind bringen. Nach Daten der Krankenkasse Maccabi wirken die Impfungen schneller als angenommen. Die Wahrscheinlichkeit eines schweren Covid-19-Verlaufs sinkt demnach bereits 18 Tage nach der ersten Impfung deutlich. Schon zwei Tage nach der zweiten Impfung sinkt bei über 60-Jährigen das Risiko, stationär behandelt werden zu müssen, um 60 Prozent. Nach jüngsten Zahlen des israelischen Gesundheitsministeriums infizierten sich nur 0,01 Prozent aller, die zweifach geimpft sind, mit dem Virus – keiner davon erkrankte schwer. Als Sarah Stricker und ihr Freund am Impfzentrum ankommen, geht es schnell. Die Schriftstellerin zieht ihre Gesundheitskarte durch ein Lesegerät, wird sofort aufgerufen. Ein Stockwerk höher stellt ein arabischer Pfleger drei Gesundheitsfragen. Ein kleiner Pieks, ein gemeinsames Foto – fertig. „Die Israelis sind sehr gut darin, sich in Ausnahmesituationen nicht mit Planen aufzuhalten, sondern einfach mal zu machen – das spart Zeit“, sagt Stricker. „Wenn ich höre, dass in Deutschland die Einladungen zur Impfung per Post verschickt werden, kann ich nur den Kopf schütteln.“ Inzwischen impft Israel auch 35-Jährige und 16- bis 18-Jährige, die sich auf Abschlussprüfungen vorbereiten. Den Termin für ihre zweite Impfung hat Stricker bei Bestätigung des ersten automatisch über die App erhalten: 14. Februar – Valentinstag. „Schön, oder?“, sagt sie, „ausgerechnet am Tag der Liebe komme ich dem Ziel etwas näher, meine Lieben hoffentlich schon sehr bald wieder umarmen zu können.“

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