München – Wörtlich übersetzt bedeutet Fukushima „Insel des Glücks“, doch seit einem Jahrzehnt steht der Ort im Nordosten Japans für Tod und Zerstörung. Am 11. März 2011 löste ein schweres Seebeben, das größte der japanischen Geschichte, einen Tsunami mit bis zu 15 Meter hohen Wellen aus. Mehr als 18 000 Menschen starben. Die Wassermassen fluteten auch das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi, in drei der sechs Reaktorblöcke kam es zur Kernschmelze. Hunderttausende mussten vor der Radioaktivität fliehen, noch heute sind manche Regionen Sperrgebiet. Die Entsorgungsarbeiten werden nach Schätzungen von Experten noch mindestens 30 Jahre dauern.
Zehn Jahre danach ist Atomkraft umstritten und wird zunehmend von den Erneuerbaren Energien in den Schatten gestellt. „Man kann ein Atomkraftwerk nicht mehr nach marktwirtschaftlichen Aspekten bauen und kaum noch betreiben“, sagt der deutsche Energieexperte Mycle Schneider, Mitautor des jährlichen „World Nuclear Industry Status Report“ und Träger des „Right Livelihood Award“ (alternativer Nobelpreis). In manchen Ländern ist die Technologie dennoch weiterhin gefragt – auch in Japan. Ein Überblick.
Japan
Einen offiziellen Ausstieg aus der Atomkraft gibt es bis heute nicht. In der Realität spielt sie derzeit aber nur eine kleine Rolle. Aktuell liegt ihr Anteil am nationalen Strommix bei 7,5 Prozent. Nach dem Unglück von Fukushima waren alle Reaktoren vom Netz genommen worden. Von ihnen sind neun seit einigen Jahren wieder aktiv, die 24 übrigen bleiben abgeschaltet.
Aufgeben will die Regierung die Atomkraft aber nicht. Ministerpräsident Suga kündigte vergangenes Jahr an, aus Gründen des Umweltschutzes nicht darauf verzichten zu wollen. Wegen der Verstromung von Kohle und geplanten neuen Kohlekraftwerken steht das Land seit Jahren international in der Kritik. Bis 2030 sollen mindestens 20 Prozent des nationalen Strombedarfs wieder aus nuklearen Quellen gedeckt werden. Die Präfektur Fukushima hat jedoch den kompletten Ausstieg beschlossen.
Deutschland
Nur drei Tage nach Fukushima leitete die Bundesregierung den Ausstieg aus der Atomenergie ein. Kanzlerin Angela Merkel betonte zwar die Sicherheit deutscher Reaktoren und die Bedeutung als Brückentechnologie, dennoch müsse die Lage neu analysiert werden: „Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.“ Ende März wählte Baden-Württemberg als erstes Bundesland mit Winfried Kretschmann einen grünen Ministerpräsidenten. Er löste den CDU-Mann Stefan Mappus ab – einen Verfechter der Atomenergie.
Wenige Monate später schaltete Deutschland die ersten acht von 17 Reaktoren ab – eine radikale Kehrtwende, weil erst 2010 eine Laufzeitverlängerung beschlossen worden war. Die Betreiberfirmen erhoben hohe Schadenersatzansprüche, die bis heute nicht endgültig geklärt sind. Noch vor zwei Jahren unternahmen Teile der Union sowie der Wirtschaft einen letzten Versuch, Atomkraft als Brückentechnologie zu erhalten. Atomkraft sei vergleichsweise sauber und trage zur Versorgungssicherheit bei. Im Gegenzug solle man Kohlekraftwerke früher abschalten. Aber selbst die Betreiber der Kraftwerke lehnten ab – sie hatten sich strategisch längst neu ausgerichtet. 2019 kamen 11,7 Prozent, 2020 nur noch rund elf Prozent des in Deutschland erzeugten Stroms aus Kernkraftwerken. Sechs Reaktoren sind noch am Netz, davon zwei in Bayern (Text rechts). Bis Ende 2022 sollen auch sie abgeschaltet werden.
China
Das Riesenreich ist weltweit führend beim Neubau von Atomkraftwerken. In den vergangenen zehn Jahren entstanden 37 von 63 weltweit ans Netz gegangenen Reaktoren in China. Von den fünf Kraftwerken, die 2020 starteten, stehen vier in der Volksrepublik. Im Januar ging zudem das erste Kraftwerk aus heimischer Produktion ans Netz („Drache Nummer eins“). Aktuell sind 50 Anlagen in Betrieb und weitere 16 in Bau. Das Land ist damit nicht nur eines der nuklearen Schwergewichte, es hat auch den mit Abstand jüngsten Reaktorpark. Ihren Fünfjahresplan hat die Regierung allerdings deutlich verfehlt. Aber: Noch stärker als die Atomkraft wächst in China der Markt der Erneuerbaren Energien. 2020 speisten neu angeschlossene Atomkraftwerke zwei Gigawatt Strom in die Netze ein – bei Sonne-, Wind- und Wasserkraft waren es 133 Gigawatt.
USA
Mit 94 Reaktoren sind die Staaten weltweit die Nummer eins. Mit einem Durchschnittsalter von 40 Jahren ist der Reaktorpark aber auch der älteste. In den vergangenen 20 Jahren ging nur ein neues Kraftwerk ans Netz.
„Es ist nicht so, als hätten die USA seit Jahren Anti-Atom-Regierungen“, sagt Mycle Schneider. Die Bush-Administration beschloss 2001 den Bau von zwei Kraftwerken mit vier Reaktoren. Bei zweien ist der Bau gestoppt, nachdem Kosten von zehn Milliarden Dollar aufgelaufen waren. Die anderen beiden sollen fertiggestellt werden, aber auch hier sind die Kosten explodiert. Weil das Land aber bis 2035 seine Stromgewinnung CO2-neutral gestalten will, könnten die alten Meiler zumindest kurzfristig an Bedeutung gewinnen. Die Atomaufsichtsbehörde prüft Laufzeitverlängerungen.
Zudem scheint der neue Präsident Joe Biden auf neue Reaktortechnologien zu setzen. Small Modular Reactors heißen sie, kleine Module, die in Serie hergestellt und von der Fabrik leicht an den zukünftigen Standort transportiert werden sollen. Das bekannteste Unternehmen auf diesem Gebiet ist TerraPower, es wurde 2008 von Microsoft-Gründer Bill Gates aufgebaut. Seitdem sind allerdings 13 Jahre vergangen, ohne dass man der Serienreife nahe wäre. „Es gibt kein Design, kein Pilotprojekt, nichts“, sagt Schneider.
Frankreich
Die Wahlheimat Schneiders setzt wie kein anderes Land auf Atomkraft. Zwar wurde 2015 ein Energiewendegesetz verabschiedet, wonach der Anteil am nationalen Strommix bis 2025 auf 50 Prozent sinken soll, aber aktuell liegt er noch immer bei über 70.
Die Kraftwerke, im Durchschnitt 36 Jahre alt, werden immer wieder von technischen Problemen lahmgelegt. Wegen Störfällen stand 2020 im Schnitt jeder Reaktor 96 Tage still. Auch das ist ein Grund, weshalb der Staatskonzern EdF als Betreiber mit mehr als 42 Milliarden Euro verschuldet ist und bis 2030 rund 100 Milliarden in den Weiterbetrieb investieren muss. Dennoch wurde die Laufzeit gerade erst unter Auflagen um zehn auf 50 Jahre verlängert. Dass Atomkraft weiterhin ein bedeutender Faktor sein wird, betonte Präsident Macron bereits im Dezember. „Atomare Kapazitäten, zivile und militärische, sind Teil der Grande Nation und wurden historisch als geopolitisches Instrument genutzt“, sagt Schneider.
Großbritannien
Boris Johnson kündigte vergangenes Jahr an, den Bau von Atomkraftwerken voranzutreiben. Wie andere Regierungschefs nannte auch er die Reduzierung von CO2-Emissionen als Hauptgrund. Der aktuelle Reaktorpark ist veraltet, die jüngste Anlage ging 1989 in Betrieb. Neben Großanlagen setzen die Briten auf kleine Module. Rolls-Royce ist auf diesem Gebiet aktiv. Im Südwesten des Landes, im Kraftwerk Hinkley Point, entstehen gerade zwei Druckwasserreaktoren (EPR). Sie sollen auch Vorbild für eine weitere Anlage an der Ostküste (Sizewell) sein. Der Zeitplan ist aber ebenso ein Problem wie die Kosten. Mycle Schneider weist darauf hin, dass die EPR schwer zu realisieren sind. Sie seien „eine Reaktion auf Tschernobyl“ gewesen. „35 Jahre später ist noch kein EPR in Europa in Betrieb.“
Russland
Der einzige nicht-chinesische Reaktor, der 2020 in Betrieb ging, stammt aus russischer Produktion. Er steht in der Türkei. Weitere Kraftwerke entstanden zuletzt in Bangladesch und Belarus. Auch in Indien und dem Iran sollen in naher Zukunft russische Anlagen den Betrieb aufnehmen. Im eigenen Land dagegen „sind die Ambitionen zurückgeschraubt worden“, hat Schneider beobachtet. In Russland gebe es beim Bau von Atomkraftwerken ein Muster: „Man baut, solange man Geld hat. Geht das Geld aus, wird der Bau gestoppt.“ So entstanden in den letzten zehn Jahren zehn Reaktoren, aktuell aber setzt die Abhängigkeit von Öl- und Gaspreisen der Wirtschaftskraft zu.
Deutsche Nachbarn
Österreich ist atomfrei. Es wurde in den 1970ern zwar in Zwentendorf in Niederösterreich ein Kernkraftwerk gebaut, aber nach einer Volksabstimmung nie in Betrieb genommen. Italien hat seine vier Kraftwerke bereits nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl stillgelegt. Silvio Berlusconi liebäugelte mit einem Wiedereinstieg, bei einer Volksabstimmung 2011 nach Fukushima stimmten aber 94,1 Prozent der Italiener dagegen. Die Schweiz hat noch vier aktive Kraftwerke. Nach Fukushima beschloss die Schweiz aber, keine neuen zu bauen und die bestehenden nach Ablauf der regulären Betriebszeit abzuschalten. Das wäre 2034. Belgien will bis 2025 aus der Atomkraft aussteigen. In den Niederlanden läuft nur noch das Kernkraftwerk Borssele. Die Regierung erwägt aber den Bau neuer Kraftwerke, um die Klimaziele zu erreichen. Tschechien betreibt in Dukovany und Temélin insgesamt sechs Reaktorblöcke und will weiter auf Atomkraft setzen. Dänemark entschied sich bereits 1985 gegen Kernkraft und ist atomfrei. Das bisher atomfreie Polen will bis 2040 in die Atomkraft einsteigen. Sechs Werke sind geplant, zwei davon an der Ostseeküste in Zarnowiec oder Kopalino. Luxemburg und Liechtenstein haben keine Atomkraftwerke.